„Gundhi“ – ein Wortspiel aus Gandhi und dem englischen Wort für Waffe, das die Dialektik einer Welt zwischen normalisierter Gewalt und dem Wunsch nach Frieden offenbart, prägt die Inszenierung des Kollektivs „De Warme Winkel“ am Schauspielhaus Bochum.
Gleich zu Beginn tarnen sich die Darsteller:innen im Vorraum als Mitarbeitende des Schauspielhauses. Einer von ihnen läuft wild schreiend herum, verpönt das Theater als heuchlerisch und gewaltverherrlichend, eine andere Darstellerin prügelt sich obenrum nackt mit ihrem Kollegen, der am Boden festgehalten wird. Eine der Besucherinnen wird gefragt, ob sie Netanjahu töten würde, wenn keiner es mitbekommen und sie nicht bestraft werden würde und sie antwortet mit „Ja“. Ein paar Besucher:innen werden auserwählt und in den Saal begleitet, bevor der allgemeine Einlass stattfindet. Mit einer Kamera wird alles gefilmt und auf Bildschirme auf der Bühne und im Vorraum übertragen, so auch das den Einlass begleitende Aufzählen von Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Schauspieler:innen, Musiker:innen, Instrumenten, Gerichten, Filmen, politischen Organisationen, sogar Sexstellungen. Alles Mögliche wird von einem der Schauspieler vorgelesen und mit einem knappen „Ja“ oder „Nein“ kommentiert. Im Saal angekommen, sitzen die zuvor ausgewählten Besucher:innen auf Gymnastikbällen im Planetenlook auf der Bühne verteilt. Eine Zeit lang werden sie erst einmal befragt und dabei live gefilmt und auf den Bildschirm gestreamt. Sie beantworten, welche Politiker:innen ihnen Angst und welche Hoffnung machen.
Als es mit der Inszenierung des Kollektivs dann richtig losgeht, entfaltet sich eine Aneinanderreihung von experimentellen Szenen, die sich nicht nur mit Gandhi, seinen Prinzipien und Schwachstellen kritisch auseinandersetzen, sondern auch Kollektivität als Mittel nutzen, um Frieden in seinen realistischen Möglichkeiten und Krieg in seiner Allgegenwärtigkeit zu offenbaren. Wie lässt sich Frieden denken in einer Welt der Gewalt? Wege müssen erprobt und ertastet werden, um Frieden als Gefühl und Handlung zu definieren. Was durchscheint in dieser Inszenierung, ist, dass der Glaube an ein größeres Ganzes wichtig ist, ein Gefühl von gemeinsamer Stärke, die vorrangig gefühlt wird, bevor sie im Kopf Einzug findet. Frieden wird zunächst einmal gefühlt und über ein Handeln aus (Mit-)Gefühl in die Welt getragen, bevor theoretische und strukturelle Komponenten eine Bedeutung haben.
Im imitierten Gandhitempel werden barfuß Gespräche geführt, wird sich umgezogen und zur Waffe gegriffen, um zum spirituellen Kämpfer zu werden. Die Problematik hinter Gandhis Philosophie eines gewaltlosen Widerstands wird thematisiert, ein Interview mit ihm simuliert, in dem deutlich wird, dass auch er kein perfekter Mensch war, sondern unter anderem. durch seine Worte über Juden, die sich gewaltlos untergeben sollten und seiner Definition Hitlers als Freund fragwürdig. In der Choreografie der spirituellen Kämpfer*innen steckt die Vermutung, dass Frieden etwas ist, das errungen und erkämpft werden muss, weil Krieg zum Monopol der Realität und zur einzigen Währung geworden zu sein scheint. Zuschauende werden zum Nachdenken angeregt darüber, in welchen Kategorien Frieden operieren kann. Ein transparenter Spiegel auf der Bühne zeigt eine zweite, hintere Ebene und zugleich das Publikum. Frieden und Diskurs müssen auf Augenhöhe stattfinden, der Mensch muss seine Stimme hören, ohne die Lautstärke des Anderen zu übertönen, genau wie in einem Chor – so die Metapher, die für einheitliche Kraft verwendet wird. Dass Friedensbemühungen nicht unterwürfig und leise sein müssen, sondern manchmal rebellisch und wild sind, klingt im Tempel im Bericht eines Lebensgefühls an: „Da war ich mit den anderen Kindern im Sommer in diesem christlichen Camp, ohne jeglichen Punk,“ klagt eine der Besucherinnen.
Die entscheidende, die Inszenierung charakterisierende Frage wird gestellt, laut, fordernd, einschüchternd und mutig: „Können wir lernen, den Frieden zu lieben, so wie wir gelernt haben, den Krieg zu lieben?“ Die Perversion und Grenzerfahrung des Krieges wird entlarvt: Dass Menschen, die den Krieg erlebt haben, nicht darüber reden wollen, denn wie sollen sie erklären, dass der Krieg ihnen Dinge offenbarte und Seiten des Menschseins erfahrbar machte, die ohne Lebensgefahr nicht einmal ansatzweise greifbar wären? Wie ist die Gewalt zu überwinden, die den Menschen schon immer fasziniert, ob er will oder nicht? Welchen Wert hat Frieden, wenn Krieg zum Menschsein dazugehört, zu einer Welt, die ruhelos, größenwahnsinnig und ungerecht ist? Am Ende singen die Darsteller:innen lange, wiederholend, einprägsam und nachhallend dennoch den Friedenswunsch: „Mögen alle Wesen frei und friedlich leben,“ das Publikum, animiert dazu, ein Teil des großen Ganzen zu sein, stimmt mit ein und darf dieses Friedensgefühl mittragen. Die Widersprüchlichkeit des Menschen, die Dilemmata, die in den Bestrebungen nach Frieden stecken, das Ying und Yang des Guten und Bösen, all das wird ersichtlich als Unmöglichkeit, den Frieden als Normalzustand zu denken, und doch als Hoffnung und Utopie, ihn als wichtigeren Teil im Gegensatz zu erkennen, zu verteidigen und anzustreben. Nur im Dunkeln, wenn die Zuschauenden nichts sehen und im Saal nur dem Hören ausgesetzt sind, entfaltet sich die Möglichkeit von Fantasie und Vorstellungskraft, die es für Frieden braucht: Im Dunkeln sind wir gezwungen, hinzuhören, einer Geschichte zu lauschen, einer Fragestellung, die unsere Bereitschaft zur Gewaltlosigkeit, zur Empathie, Nächstenliebe und Menschlichkeit erfragt: Würdest du das Kind des Feindes, der deinen Vater tötete, mit Liebe willkommen heißen? Ein berührender Aufruf zum Hinterfragen von Fronten, Feinddenken, Abgrenzung und Hass. Leitlinien werden sanft gezogen, wie Versuche in den Saal und auf die Bühne geworfen, Fragen und fehlende Antworten koexistieren in dieser Inszenierung ohne sich zu widersprechen – so wie es in der echten Welt vielleicht auch sein sollte. Widersprüchliches muss sich nicht bekriegen, sondern kann nebeneinander und voneinander lernen, sich austarieren, den Weg des geringsten Leids suchen?
:Maja Hoffmann