Basierend auf dem autofiktionalen Roman von Necati Öziri, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war, entfaltet sich im Schauspielhaus Dortmund ein berührendes Panorama migrantischer Familiengeschichte.
Das persönliche Schicksal einer Familie wird verwoben mit übergeordneten gesellschaftlichen Missständen. Intim und nahbar und gleichzeitig höchst politisch und gesellschaftskritisch ist das Ergebnis, in dem die Lebensrealität der Geschwister Arda und Aylin und ihrer Mutter zur Sinnsuche und zum Kampf wird, der Stabilität, Gleichheit und Identität als fragile und schwindende Konstrukte zu erringen versucht. Geflohen aus dem Heimatland und vom Vater verlassen wird nun der Versuch in Deutschland eine Existenz, eine Jugend, eine Perspektive zu gestalten, zum Minenfeld und zur Wunde.
Arda liegt mit einer Autoimmunkrankheit, die seine Leber angreift, im Krankenhaus und schreibt an seinen abwesenden Vater Metin, der die Familie verlassen hat und zurück in die Türkei gegangen ist. Er reflektiert seitdem er weg ist über das Leben ohne ihn, welche Fragen er sich deswegen stellt, was er fühlt. Das Publikum erhält einen Einblick in das Leben einer Familie, die durch die Abwesenheit des Vaters versucht, eine Leerstelle zu füllen, eine Wunde zu heilen, ein Trauma zu überstehen, und sich einen Platz zu schaffen.
Die zentralen Themen Migration und Vaterlosigkeit korrelieren mit sozialer Ausgrenzung, einem Kampf gegen Bürokratie, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Missverstandenwerden und einem Gefühl von Sprachlosigkeit und Heimatlosigkeit. Man möchte der Familie einen Platz geben, die Gesellschaft und ernüchternde Realität verändern, die voll von solchen Schicksalen, Ungerechtigkeiten, Kluften und Diskrepanzen ist.
Die Mutter treibt verloren durch ihr Leben, trinkt viel, kümmert sich nicht um ihre Kinder, schreit sie an, bringt fremde Männer mit nach Hause – den Sex auf dem Dachboden hören die Kinder von unten. Es wird ersichtlich, dass sie von der Flucht und dem Verlassenwerden traumatisiert, ratlos, perspektivenlos und geschädigt zurückbleibt. Die Geschwister sind sich gegenseitig am nächsten, müssen aufeinander aufpassen, in diesen Lebensumständen und in diesem System lernen, irgendwie zu funktionieren. Dann jedochist Arda ganz allein – seine Schwester Aylin kommt in eine Pflegefamilie und die beiden entfremden sich.
Auf der Bühne finden sich zwei Ebenen: Simultan werden Erinnerungen sowie gegenwärtiges Geschehen dargestellt. Auch Ardas innerer Monolog wird visuell dargestellt, die Bühne wird zum Schauplatz seiner Gedankenwelten. Seine Erinnerungen und Schilderungen werden auf der Bühne lebendig, als Teil von seiner Geschichte und Identität kommen sie aus der Mitte seines nun krankheitsbedingt bedrohten Seins: „Erzählen ist wie Wasser, Metin. Einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst,“ sagt Arda, und teilt somit auch ein Stück seiner Leidenschaft fürs Erzählen und die Literatur. Sinnbildlich ist diese Metapher auch Ausdruck seiner Widerstandsfähigkeit: Er bahnt sich seinen Weg, trotz aller Widrigkeiten, er zeigt uns, wie sich seine Geschichte nur schwer und dennoch überwunden entfalten musste. Das Leben, das am Rande der Gesellschaft ausgegrenzt wird, ist dennoch da und kann nicht ignoriert werden.
Die schauspielerische Leistung überzeugt: Sowohl die Geschwister als auch die Mutter wirken authentisch, nahbar und verletzlich. Der Tiefe und Schwere des Themas werden die Darsteller:innen gerecht; emotionale Szenen berühren und bewegen, statt pathetisch oder oberflächlich zu wirken. Besonders eindrucksvoll ist der Chor des Migrantinnenvereins Dortmund, der durch seine Stimmenvielfalt noch mehr Gewicht beiträgt – noch mehr migrantischen Stimmen wird Gehör verschafft und eine Bühne geboten, noch stärker wird das Ausmaß migrantischer Lebensrealitäten und ihrer Hürden deutlich und spürbar. Der Chor wirkt wie ein Wiegenlied, in dem die Familie eingelullt und aufgefangen wird. Das Leben im Exil wird durch den Chorgesang untermalt, mal als solidarische Unterstützung, mal als wehleidig und bedeutungsschwer. Als Gegenpol dient der „Chor der Deutschen“, der das Klischee des privilegierten, rassistischen deutschen Bürgers ironisch aufgreift. Diese Perspektive findet ihren Höhepunkt als Aylin auf einer Party ist. Das Lied „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino ertönt und weckt sofort Assoziationen zum medial viel beachteten ausländerfeindlichen Sprechgesang. Subtil und geschickt nutzt Julia Wissert also dieses Lied, um eine rassistische, beklemmende Atmosphäre zu schaffen. Als dann noch ein Partygast, der betrunken von Aylin angemacht wird, obwohl er offensichtlich desinteressiert ist und ihren Kussversuch abweist, sagt, „er stehe nicht auf Affen“, wird die enorm ausgrenzende, fremdenfeindliche Umgebung ersichtlich, in der sich die Familie behaupten muss. Der Kampf um Sinnstiftung und das Finden einer eigenen Identität in einem solchen Land, das politisch immer rechter aufgeladen ist, wird durch die Darstellung der stereotypen und ignoranten Deutschen humorvoll und dennoch aufrüttelnd inszeniert. Der Selbstmord des Vaters von Ardas bestem Freund im Stück zeigt, wie ausweglos, belastet und erniedrigt sich migrantische Menschen in ihrem Leben oder ihren Jobs in Deutschland fühlen können. Dass sie es oft nicht wagen, zu träumen, ihren Wünschen nachzugehen, dass sie sich minderwertig behandeln lassen, von Behörden und Bürokratie, denen sie ihr Deutschsein beweisen müssen, die sie genau unter die Lupe nehmen, als seien sie eine Gefahr. Arda möchte Literatur studieren und schreiben, worüber sein bester Freund nur lacht. Der Verlauf einer migrantischen Existenz in Deutschland scheint von Fremdbestimmung und ungeschriebenen Gesetzen bestimmt. Chancengleichheit existiert nicht, eine Zweiklassengesellschaft auf migrantischen Rücken entsteht und prallt in ihrer traumatischen und verheerenden Wucht auf die Lebensrealitäten der „Anderen“ zurück, die im Sinne des „Othering“ nicht auf Augenhöhe mit anderen Deutschen leben – Dienstleistungsjobs werden in der Inszenierung als das Los vieler migrantischer Menschen gezeigt.
Die Krankheit Ardas wird von ihm sachlich beschrieben; sie sei keine „Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken“. Jedoch wird sie vom Dramaturgen in Dortmund als Metapher inszeniert. Jasco Viefhues verdeutlicht sie in seinem Programmheft als Sinnbild für die Stellung der migrantischen Familie in der deutschen Gesellschaft, die sie abstoßen und ausgrenzen will, so wie auch Ardas Leber nicht mehr mit ihm zusammenarbeitet. Obwohl Arda krank ist, scheint er von allen Figuren am gesammeltsten zu sein, als hielte er die Familie und seine erlebte Welt zusammen durch seine Erzählungen und Einordnungen, die er ruhig, reflektiert und dennoch emotional darlegt. Er verkörpert Lebenswillen, Intelligenz, Poesie, Humor und Mut, er gibt die Hoffnung nicht auf, bemüht sich, trotz aller Widrigkeiten Ordnung und Verständnis zu schaffen: „Mein Name ist Arda Kaya und es geht mir gut,“ sagt er am Ende, abgeklärt. Es wirkt, als wäre ein Stück Erlösung von ihm gefallen, nachdem er die Vergangenheit und den Leidensweg erzählt und somit noch einmal durchlebt hat. Ganz im Stile Julia Wisserts schafft diese Inszenierung den Versuch einer Utopie, in der Gleichheit und Empathie gelten wollen, was jedoch letztendlich ernüchternder Realität weichen muss: Migrantische Lebensrealitäten wie diese sind belastend und dennoch hoffnungsvoll, sinnhaft und berechtigt – eine Ambivalenz, die auch durch den verzweifelten Hedonismus der Mutter und ihr Feiern und Trinken mit Freundinnen ersichtlich wird. Wisserts Handschrift gibt den Figuren eine Suche nach Autonomie und Ermächtigung in einer kalten Gesellschaft mit auf den Weg und zeigt sowohl ungeschönte und desillusionierende Konsequenzen, als auch menschliche Nähe, Träume, Umwege und Ausflüchte.
:Maja Hoffmann