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Die in der Tanzwelt preisgekrönte und seit Jahrzehnten etablierte brasilianische Choreografin Lia Rodrigues feierte mit ihrer neusten Inszenierung „Borda“ am 03.06. Deutschlandpremiere im PACT Zollverein in Essen. Neun Tänzer:innen verwandeln ihre Vision in ein transformatives Manifest menschlicher Freiheit und Körperlichkeit.

Die zeitgenössische Tanzkunst von Lia Rodrigues prägt eine intensive, poetische, körperliche und politische Handschrift: Im Interview für das Onedance Festival verdeutlicht sie, dass alles, was Menschen tun, politisch ist, und man nicht apolitisch sein kann – so sind Kunst und Tanz für sie besondere Mittel für politische und gesellschaftliche Mitgestaltung. Ihre Inszenierungen sind durchzogen vom Selbstverständnis eines politischen Zusammenlebens. In ihnen werden durch körperliche Erfahrungen und Handlungen gesellschaftliche Themen kritisch, poetisch und interpretationsoffen ausgehandelt. Lia Rodrigues betont im Nachgespräch, dass die Interpretation der Inszenierung dem Zuschauenden überlassen ist und nur ihre Sichtweise zählt – Der partizipierende, selbst denkende und reflektierende Mensch wird so zum wichtigsten Teil einer aktiven Diskussion und Veränderung, die die Inszenierung anstrebt und veranschaulichen möchte.

Was kann „Borda“ bedeuten?

Der Titel „Borda“ ist in seiner mehrsprachig geprägten Bedeutung polyvalent – Das englische Wort für „Grenze“ leuchtet ein, doch bedeutet „bordar“ im Portugiesischen auch „sticken“. Das Zusammensticken unterschiedlicher Materialien zeigt durch eine Patchworkmetaphorik auf, wie Unterschiedliches als Mosaik zusammenkommen kann, wie Grenzen verwischt, zusammengeführt und als buntes und diverses großes Ganzes koexistieren können. In dieser Bildlichkeit steckt wie in der Inszenierung auch ein Schwellenzustand zwischen Trennung und Verbindung, der sich mutig und laut zu eigen gemacht wird, der zelebriert wird als Raum, in dem Einigkeit möglich wird. Lia Rodrigues überschreibt und überdenkt den Begriff der Grenze – sie ist nicht mehr definiert als ausschließendes Hindernis, sondern als Herausforderung, als Übergang in etwas Neues, als Ort, an dem unterschiedliche Zustände aufeinandertreffen und sich vermischen. Das dem Titel inhärente Verb „sticken“ konstituiert sich in der Inszenierung als aktive Körperarbeit, um mit verschiedenen Farben ein größeres Bild zu schaffen, und „bordar“ kann auch als „umranden“ übersetzt werden – eine Umgrenzung einer produktiven, florierenden und lebendigen Umgebung wird geschaffen, um neue Maßstäbe zu definieren, ohne gleichzeitig einzugrenzen oder abzugrenzen.

Die Inszenierung ist eine Reise und eine Transformation, die über Grenzen hinwegschreitet, Räume erschafft und Raum einnimmt, von leise und zaghaft zu laut und frei wandeln sich die Körper, die ersichtlich werden als Ressource menschlicher Veränderungskraft. Das utopische Potential von kollektiver Befreiung, von künstlerischem Ausdruck, von Vorstellungskraft und dem Mut, zu träumen, zu wagen und zu gestalten wird in dieser Inszenierung mitreißend greifbar. Visionen und Ansätze eines besseren Zusammenlebens und gesellschaftlichen Wandels werden künstlerisch erprobt und das Anders- und Woanderssein selbst werden zum Material und Stoff, konkret verdinglicht durch Plastik und Textilien, für das Zusammenweben und Zusammendenken von vermeintlichen Widersprüchen oder Gegensätzen.

Was passiert und wie könnte man es interpretieren?

Nur langsam und zaghaft offenbaren sich Bewegungen, Gesichter und Identitäten hinter Verschleierungen und Hüllen, die wie Ballast, Barrieren und Verdeckungen wirken. Nicht sichtbar sind menschliche Körper hinter bloßen Materialien und Textilien, der Mensch scheint verdinglicht, entmenschlicht und verborgen. Erst muss er sich aus den Schalen befreien und kommuniziert dabei mit Gleichgesinnten nur subtil, leise, erschwert, undeutlich, fremd und zurückhaltend. Die Kommunikation entzieht sich der Norm und dem Verständnis des Zuschauenden – Und doch wirkt sie untereinander verständlich, gewohnt und etabliert. Das im Aussehen, im Verhalten und in der Sprache fremd, eigenartig und unverständlich Wirkende wird zur Veranschaulichung einer Lebensrealität von Menschen, die dem „Othering“ ausgesetzt sind. Doch wie auch Austausch, Inklusion und Veränderungen im Allgemeinen meist beschwerlich, kompliziert und langsam stattfinden, vollzieht sich die Transformation und Metamorphose der Körper, ihrer Darstellung und  Verhaltensweisen im Spannungsfeld zwischen einem Vorher und Nachher, das tastend und dennoch mutig, laut und befreiend erkundet und angeeignet wird. Die Textilien und Materialien dienen beispielsweise bei der Plastikplane in der Inszenierung auch als Versteck, als Unterschlupf, unter dem schützend weiter Sicherheit und Zurückhaltung gesucht wird. Die erste Phase der Inszenierung ist farblich weiß, zeitlupenartig, leise, vorsichtig, als müsse jeder Körper auf Eierschalen laufen und seinen Platz und seine Stimme nur vorsichtig nutzen. Doch ein Umbruch folgt, in dem mit den weißen, verschleiernden Textilien gerungen und gekämpft wird, es wird sich auseinandergesetzt mit Anhängseln des Selbst. Das Weiß, das wie neutral, unbemalt und anonym konnotiert wirkt, wird getauscht gegen bunte Kleidung in allen Farben, Facetten und Stoffen, die Vielfalt, Gestaltung und Selbstoffenbarung und -konstituierung verheißt. In einem Strom, der optisch an einen Fluss erinnert, werden die zuvor zwischenmenschlich vorherrschenden und bestimmenden Materialien nur noch hinterhergezogen, laut und grob bewegt, sich zu eigen gemacht; statt die Körper zu bestimmen, bestimmen nun die Körper über sie. Das hektische Treiben, das den Bruch von leise zu laut und von passiv zu aktiv kennzeichnet, wirkt wie eine Parallele zu aktivistischem Wille, etwas verändern zu wollen, und im Kollektiv präsent zu werden und zu handeln. Alte Verdeckungen der Identität oder Zuschreibungen wollen abgelegt werden, und neue, bunte Kleidung wird anprobiert als Akt der Selbstoffenbarung und -inszenierung, Selbstfindung und Verwandlung. Das gemeinsame Tanzen zeigt, wie Körper zusammen frei, ungezwungen, lebendig, energetisch, präsent und mitreißend sind – Der Tanz selbst stellt also eine Art der Grenzüberschreitung da, da er diese selbstbewusste, aktive Form des Selbstausdrucks wählt und den Körper als Träger von Kunst und Befreiung ohne Scham nutzt. 

Der Körper als Grenze

Der Körper selbst wird so zur Grenze – er kann sich unsichtbar und klein halten, unter Schichten und Anpassung verdecken, stumm und farblos bleiben, oder laut werden, sich ermächtigen, Hüllen und Zuschreibungen abstreifen, sich erlauben, sich in seiner Identität zu erkunden und auszuprobieren. Der Körper selbst ist als biologisches und organisches Konstrukt einer ständigen Veränderung ausgesetzt, er altert, er ist verletzlich, endlich, kann ermüden, sich kraftlos untergeben und aufgeben. Seine Grenzen verschieben sich ständig mit zunehmendem Alter, sie variieren je nach körperlichem Zustand und Befindlichkeiten. Wenn die körperlichen Grenzen plötzlich schmerzlich erfahrbar und real werden, kann der Kopf jedoch ungebunden vom Körper wach, reflektiert, optimistisch und willensstark bleiben. „Die Gedanken sind frei“ – hierbei wird die Kraft der Imagination als körperungebunden deutlich, das Gehirn als Teil des Körpers und doch als Konstrukt mit eigenen Grenzregelungen und Möglichkeiten, Grenzen zu überschreiten und zu „überdenken“. 

Die Kraft der Imagination

Nur die Imagination hat insofern also die Kraft, realistische Grenzen zu sprengen. Sie kann utopische Körperbilder und -handlungen entwerfen, sie kann aufzeigen, wie Körper sich im optimalen, kraftvollen und selbstbewussten Zustand ermächtigen. Imagination ermöglicht also Utopie, und dass Körper nicht nur Körper sind, sondern Vertreter von übergeordneten Problemen, die metaphorisch greifbar werden – in „Borda“ durch körperbezogene Verhaltensweisen wie das ungewöhnliche, flüsternde Sprechen, das Abhängigkeitsverhältnis zu Textilien die verschleiern, und vor allem durch das Tanzen im Kollektiv, das im Alltag nicht unbedingt so explizit zeigt, wie Körper zusammen eine Einheit bilden können, eine Kraft, eine Ermächtigung. Imagination ist durch Kunst wie den Tanz ein Mittel, um Tatsächliches auf die Metaebene zu heben, ohne Grenzen zu unterliegen – denn Kunst kann Grenzen überschreiten, um auf Probleme innerhalb dieser Grenzen und realen Umstände aufmerksam zu machen. Durch Imagination kann die Aufmerksamkeit auf solche Probleme gelenkt werden, und Wege aus Begrenzungen werden sichtbar und denkbar. Grenzen werden erfahrbar als überwindbar. Inspiration und Vorstellungskraft für neue Impulse und Ideen werden etabliert und offenbaren die Imagination als unerschöpfliche Quelle – wie Einstein schon sagte, ist die Fantasie unbegrenzt. Imagination hat im Gegensatz zur Realität keine Grenzen und wenn man sie in die reale Welt einlässt, kann eine Zwischenzone entstehen, in der sich Grenzen verschieben oder neu denken/ wegdenken lassen. Wenn Imagination ermöglicht, dass Alternativen und Veränderungen denkbar sind, dann birgt Imagination das Potential, tatsächliche Veränderungen anzustoßen. Bilder entstehen in der Imagination, auf der Bühne, in der Metapher – die sich wie in Träumen jenseits der Realität und des Machbaren bewegen können. Bilder brauchen keine Grenzen, ihnen werden nur Grenzen gesetzt. Sichtbares hat keine Grenzen, wenn der Blick stetig weiterschweift und der Körper weiterläuft und sich ihm neue Perspektiven offenbaren. Nur im Denken, in Überzeugungen und Gesetzen schreiben sich Grenzen fest – menschengemacht und daher bloße Illusionen, die durch Imagination desillusioniert, gelöst und als solche entlarvt und aufgedeckt werden können – wenn der Mut hierfür existiert, der Wille und die Vorstellungskraft, die gefördert werden muss. Genau das geschieht durch Kunst selbst, der die Möglichkeit zur unbegrenzten Fantasie und Utopie innewohnt. 

Die Philosophie des Tanzes

Synästhetisch wird für den Zuschauenden erfahrbar, dass Lia Rodrigues von poetischem Wille ausgehend an die transformative Kraft von Tanz glaubt, dem eine politische und menschliche Offenbarung innewohnen kann. Für Rodrigues gehört Tanz zur Bildung eines Menschen dazu – vielleicht, weil er dazu befähigt, körperliche Grenzen auszuloten, und diese Erfahrung auf andere Grenzen zu übertragen, die ebenso in Zustände der Bewegung und des spielerischen Ausdrucks transformiert werden können. Kunst und soziale Prozesse können so zusammenarbeiten, eine Synergie bilden und sich gegenseitig inspirieren.

Wie entsteht Veränderung ?

Grenzen formen Identitäten, Chancen, Selbstbilder, Weltbilder, Ungerechtigkeiten und Überzeugungen. Sie müssen verwischt und aufgelöst werden, um in einen Diskurs mit der Gegenseite zu treten; Dialog trotz unterschiedlicher Sprachen und Prämissen muss möglich werden, um gemeinsame Räume statt verhärtete Fronten zu schaffen. Wo sich zwei Zonen an der Grenze berühren, kann etwas Neues entstehen, kann die Grenze fluid und hinfällig werden, hinterfragt werden, beseitigt werden. Die Grenze als menschengemachtes Konstrukt ist nicht in Stein gemeißelt und kann der stetigen Veränderung menschlicher Überzeugungen oder Regeln folgen. In der Inszenierung wird durch die Gebundenheit an Materialien, den gemeinsamen Tanz und das Austarieren der Machtverhältnisse deutlich, dass alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist, dass sich alles gegenseitig beeinflusst und alles somit Verantwortung und Mündigkeit besitzt. In unserer wechselwirkenden Macht liegt eine Verantwortung zum Streben nach Veränderung und dem Guten, liegt der Schlüssel zu gerechtem Zusammenleben.

Im Choreografieren und dem „Sticken“, das namensgebend für die Inszenierung ist, sieht Rodrigues die Parallele, dass kreativ, detailliert und zeitaufwändig etwas erschaffen wird, und dass Einzelnes von Grund auf neu zusammengeführt werden muss – Aspekte finden transformierend und verschmelzend als etwas Neues zusammen, so wie es auch auf ein progressives Verständnis von Grenzüberwindungen zutrifft. Im Erschaffen von neuen Formen aus unterschiedlichen Komponenten liegt für Rodrigues die Grunderkenntnis, dass der Mensch sich selbst und seine Umgebung formen, gestalten und verändern kann. Das Überschreiten von Grenzen und aktive Verändern findet zunächst intrinsisch in jedem selbst statt, indem stets Bestrebungen verfolgt werden, voranzukommen, nie statisch, festgefahren und engstirnig zu sein, sondern offen für das Leben und Ideen als sich wandelnde, veränderliche Strukturen. Nur in der Veränderung kann man sich selbst und die Welt immer wieder neu entdecken und erfinden und neue, wichtige Wege begehen und etablieren. „Imagination und Träume bleiben essentielle Kraftstoffe für das Vorankommen und das Aktivieren neuer Arten, in der Welt zu existieren,“ resümiert Lia Rodrigues im Interview mit der Kulturjournalistin Beatrice Lapadat.

:Maja Hoffmann

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