Bild: Behelmte Einsatzkräfte bei Demonstrationen: Ein häufiger Grund für die Einstellung von Verfahren gegen gewalthafte Polizeibeamt*innen., Zwischenergebnisse der Kriminologiestudie Bild: stem

Kriminologie. Die ersten Ergebnisse des Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) des Lehrstuhls für Kriminologie an der RUB sind erschienen und deuten auf ein weit verbreitetes Problem hin.

Nach den Klimademonstrationen am vergangenen Freitag machte eine Reihe von Videos aus Hamburg die Runden durch die sozialen Medien. Darauf zu sehen ist eine Gruppe junger Menschen. Sich in einer Sitzblockade befindend, sind sie von Polizist*innen umringt. Im Folgenden ist zu sehen, wie die Polizist*innen die Blockade durch Zwangsanwendung zu lösen versuchen. Dabei dreht eine Beamtin den Kopf eines Demonstranten in einem sogenannten Rückhaltegriff zur Seite und trägt ihn weg. In einem anderen Video hält eine Beamtin eine Demonstrantin fest, während ein Kollege die Finger ihrer ausgestreckten Hand zusammenrollt. Es ist ein Bild, dass sich häufig nach Demonstrationen zeigt. In den sozialen Medien und auf Nachrichtenseiten entstehen daraufhin stets Diskussionen, ob diese Gewaltanwendungen rechtswidrig sind.
Einen ersten Ansatz liefert nun der Zwischenbericht des Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol), das um das Team von Tobias Singelnstein, Hannah Espín Grau und Laila Abdul-Rahman am Lehrstuhl für Kriminologie an der RUB entstand. Daraus wird deutlich: viele der Betroffenen zeigen die von ihnen erlebte Gewalt nicht an. Das Dunkelfeld der nicht zur Anzeige gebrachten Vorfälle, die als Verdachtsfälle gelten, ist nach Einschätzung der Wissenschaftler*innen mindestens fünf mal so groß, wie das Hellfeld. Als Grund gegen eine Anzeige gaben die Befragten an, keinen Erfolg zu sehen, oder eine Gegenanzeige zu befürchten. Häufig konnten die handelnden Polizist*innen zudem nicht identifiziert werden. Dies ist auch ein vorwiegender Grund für die Einstellungsrate von 93 Prozent. Dies stelle „eine auffallend hohe Einstellungs- sowie eine besonders niedrige Anklagequote“ dar, die auch den amtlichen Statistiken entspricht. Besonders Großveranstaltungen sind häufiger Ort der Anwendung polizeilicher Gewalt. 55 Prozent der Befragten erlebten Gewalt bei Demonstrationen und politischen Aktionen, 25 Prozent bei Fußballspielen.

Im zweiten Teil der Studie werden die Wissenschaftler*innen mit 60 Expert*innen aus Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft sprechen und so weitere Erkenntnisse über ein Forschungsfeld erhalten, das bisher unerforscht ist. Im Interview spricht die Forscherin Hannah Espín Grau über die Einordnung der Befunde, ungleiche Wahrnehmungen gegenüber Opfern von Polizeigewalt und die wissenschaftliche Vorgehensweise.

:bsz: Nun sind die ersten Zwischenergebnisse ihrer Studie veröffentlicht. Der bereinigte Datensatz umfasst 3.300 Berichte von Personen, die mit Polizeigewalt in Kontakt kamen. Haben sie mit dieser Anzahl gerechnet?

Hannah Espín Grau: Wir hatten ursprünglich gehofft, dass sich 700 Personen melden. 700 Teilnehmende hatten wir schon nach den ersten 24 Stunden. Da waren wir sehr überrascht. Das hing sicherlich damit zusammen, dass wir den Fragebogen an Gatekeeper geschickt haben, also an Organisationen, Gruppen und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die uns zugesichert haben, ihn weiterzuleiten und zu verbreiten. Das hat dann über die Zeit von neuneinhalb Wochen abgenommen, aber bevor wir die Umfrage gestartet haben, haben wir auf jeden Fall nicht mit einem so hohen Rücklauf in so kurzer Zeit gerechnet.

:bsz: Deutet das darauf hin, dass dieses Problemfeld größer ist, als bisher angenommen?

Hannah Espín Grau: Das kann man nicht direkt aus der Teilnehmendenzahl ableiten, weil wir nicht wissen, was die Grundgesamtheit ist, also wieviel Prozent wir von der Grundgesamtheit von allen Leuten, die schon einmal betroffen waren, erreicht haben. Darüber kann man eher Aussagen treffen, wenn man sich das Verhältnis der amtlichen Hellfeldstatistiken zu unserem Hellfeld ansieht. Man kann dabei zu der Einschätzung gelangen, dass das Dunkelfeld gesamtgesellschaftlich ähnlich groß wie in unserer Statistik sein muss, weil das Hellfeld in unserer Statistik der amtlichen Hellfeldstatistik stark ähnelt.

:bsz: Aufgrund der Art der Erhebung findet sich eine demographische Ausprägung in ihren Befunden. Die Betroffenen sind im Durchschnitt 26 Jahre, sehr gut gebildet, überwiegend männlich. Wie sind diese Stichproben zu kontextualisieren und wie kann man in zukünftiger Forschung Bevölkerungsgruppen erreichen, die durch diese Erhebungsmethode nicht erreicht wurden?

Hannah Espín Grau: Viele Leute fragen, weshalb wir nicht eine repräsentative Stichprobe angestrebt haben. Das wäre nur möglich gewesen, wenn wir eine Zufallsstichprobe durchgeführt hätten. Teil davon wären dann aber nur Personen gewesen, die in Deutschland registriert sind. Es kann aber natürlich auch sein, dass Menschen betroffen sind, die nicht in Deutschland registriert sind, die keinen festen Wohnsitz haben oder keinen Telefonanschluss. Ich glaube, wenn man wirklich andere soziale Schichten erreichen möchte, wäre es sinnvoller, mit einer anderen Methode heranzugehen, die nicht unbedingt nach Repräsentativität strebt. Solange man einer wissenschaftlichen Methodik folgt, ist die Erhebung wissenschaftlich. Dadurch kann man spezifisch überlegen, wie man diese Gruppen anspricht. Vielleicht sind das dann eher Interviews, weil es natürlich eine Hürde darstellt, einen Online-Fragebogen 40 Minuten lang durchklicken zu müssen.

:bsz: Wäre bei der Frage nach Polizeigewalt eine repräsentative Studie überhaupt möglich, wenn der Anteil der Gesamtbevölkerung, die davon betroffen war, relativ gering ist und dadurch weniger Berichte zustande kämen?

Hannah Espín Grau: Möglich wäre es schon. Die Frage ist, ob einen das wirklich weiterbringt. Da dieses Thema bisher so wenig erforscht wurde, hatten wir den Anspruch erst einmal Erfahrungen so breit wie möglich aber auch so differenziert wie möglich zu erfassen, gerade was zum Beispiel die Eskalationsverläufe betrifft. Wenn man bei einer repräsentativen Befragung nur sehr wenige Betroffene findet, bildet das natürlich nicht die Gesamtbreite an möglichen Vorfällen ab. Deswegen haben wir uns für den Weg entschieden, möglichst viele Betroffene direkt mit der Frage „Ist rechtswidrige Polizeigewalt passiert?“ anzusprechen und so offen darauf hinzuweisen, dass es nicht nur darum geht, Kontakt mit der Polizei gehabt zu haben, sondern einen Moment erlebt zu haben, in dem man dachte, das war zu viel oder es gab keinen Grund dafür, dass diese Gewalt angewendet wurde. Im Anschluss haben wir dann sehr kleinteilig nachgefragt, wie der Eskalationsverlauf war, wie sich die Betroffenen und andere Personen verhalten haben und wie sich nicht nur die handelnden Polizist*innen, sondern auch Polizist*innen verhalten haben, die anwesend waren.

:bsz: Wie sind die Aussagen der Betroffenen wissenschaftlich zu bewerten, zum Beispiel wenn die Geschehnisse bereits einige Zeit in der Vergangenheit liegen?

Hannah Espín Grau: Der Grundsatz bei allen Viktimisierungsforschungen, also auch wenn es beispielsweise um häusliche Gewalt, oder auch um Gewalt gegen Polizeibeamte geht, ist, dass man erst einmal dem, was die betroffene Person schildert, Glauben schenkt. Dann gibt es natürlich verschiedenste Bereinigungsmechanismen, man schaut sich etwa die offenen Angaben an und sortiert, wenn noch weitere Faktoren dazu kommen, Fälle aus, in denen überall Extremwerte angegeben wurden. Die Problematik der Erinnerungsfähigkeit haben wir versucht darüber zu lösen, nach dem schwersten Ereignis zu fragen. Es wäre auch möglich gewesen, nach dem letzten Ereignis zu fragen – wir sind aber davon ausgegangen, dass die Erinnerung an das schwerste Ereignis noch am besten erhalten ist.

:bsz: Sie konnten zeigen, dass viele Betroffene keine Anzeige stellen. Wie kann in Zukunft ein Vertrauen geschaffen werden, dass Betroffenen Gehör geschenkt wird?

Hannah Espín Grau: Es ist wichtig, dass Betroffene auch als Betroffene wahrgenommen werden. Wir merken beispielsweise, dass immer wieder in Frage gestellt wird, ob es glaubwürdig ist, was die Betroffenen berichten. Das ist in anderen Deliktsbereichen nicht der Fall und wenn eine anonymisierte Befragung von Polizeibeamt*innen durchgeführt wird, dann wird nicht im selben Maße hinterfragt, ob das alles so passiert ist. Das wäre ein erster Schritt. Es ist aber auch eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins, ob Menschen geglaubt wird, dass ihnen übermäßige Polizeigewalt widerfahren ist.

:bsz: Sie werden im zweiten Teil Interviews mit 60 Expert*innen aus Polizei, Justiz und der Zivilgesellschaft führen. Auf welcher Grundlage wählen sie diese aus?

Hannah Espín Grau: Wir nehmen an, dass sich Polizeikulturen in verschiedenen Bundesländern und auch zwischen Stadt und Land deutlich unterscheiden. Also versuchen wir, das möglichst breit abzudecken. Außerdem ist es etwas anderes, ob man als interne Ermittlerin oder als Streifenbeamter tätig ist. Und wenn man Personalverantwortung hat, hat man auch eine andere Perspektive. Deswegen befragen wir Personen auf den drei Ebenen von Führung, internen Ermittlungen und Vollzug. Wir haben dazu Genehmigungsanfragen an alle Innenministerien gestellt.

:bsz: Wie werden im endgültigen Bericht die quantitativen Befunde zusammen mit den Interviews kontextualisiert?

Hannah Espin Grau: Es geht nicht darum, dass durch die Interviews Erfahrungen aus dem ersten Teil infrage gestellt werden sollen. Stattdessen wird es als andere Perspektive betrachtet, weil zum Beispiel Staatsanwält*innen mehr über den Verlauf eines Ermittlungsverfahrens sagen können als jemand, der nicht in der Justiz selbst tätig ist. Es geht uns darum, bestimmte Zusammenhänge zu kontextualisieren, zum Beispiel: Was sind Erklärungsansätze dafür, dass die Einstellungsquoten so aussehen, wie sie aussehen? Andererseits geht es darum, mit Menschen aus der Zivilgesellschaft zu sprechen, da wir natürlich nicht gleichermaßen in allen gesellschaftlichen Bereichen Betroffene erreicht haben. Wohnungslose tauchen zum Beispiel auf, aber es sind sehr wenige. Deswegen ist es wichtig, mit Personen zu sprechen, die beispielsweise Wohnungslose beraten, um dort Stück für Stück herauszuarbeiten, in welchen Situationen es zu einer Eskalation kommt und wie die Menschen damit umgehen.

:Stefan Moll

 

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