Man müsse sich verkaufen, heißt es. Nicht auf dem Sklavenmarkt, sondern auf dem Arbeitsmarkt. Bei der Bewerbung und dem Vorstellungsgespräch findet der Verkauf statt; weite Teile des eigenen Lebenslaufs werden dafür oft schon lange im Voraus geplant. „Verkaufen“ meint hier leider nicht bloß, die eigenen arbeitsrelevanten Qualifikationen zielgerichtet zu entwickeln und authentisch zu vermitteln sowie Missverständnisse zu vermeiden. Reicht es doch häufig nicht, die für die jeweilige Arbeit benötigten Fähigkeiten zu besitzen und zuverlässig zu sein, eventuell noch sympathisch. Nein, der/die ArbeitnehmerIn soll in der spätkapitalistischen Gesellschaft möglichst in jeder Hinsicht so sein, wie es dem/der ArbeitgeberIn vorteilhaft erscheint. Wer sich auf dieses Selbst-Marketing einlässt, der verkauft nicht nur seine Arbeitskraft, sondern potenziell auch seine Persönlichkeit und läuft Gefahr, sein Selbst zu verlieren.
Natürlich sollten Bewerbungsunterlagen alles Relevante enthalten sowie ordentlich und übersichtlich sein. Auch sollte die sich bewerbende Person beim Bewerbungsgespräch (und nicht nur dort) stets ein sozialverträgliches Mindestmaß an Gepflegtheit und Manieren zeigen (wobei viele Berufe ein höheres oder übertriebenes Maß davon erfordern) und angemessene Fragen der potentiellen Arbeitgebenden schlüssig beantworten können. Pünktlich zu erscheinen ist auch sehr geboten, redegewandt und schlagfertig zu sein kann Nutzen bringen. So sinnvoll es ist, sich Vorlagen für Bewerbungsunterlagen anzuschauen sowie Informationen und Rat bezüglich Bewerbungen einzuholen, darf der Mensch für die Arbeitswelt jedoch nicht zu viel von seiner Authentizität und tatsächlichen Individualität verlieren.
Ein unangemessener Verlust von Authentizität beginnt bereits dann, wenn Bewerbende alle möglicherweise als ‚gefährlich‘ geltenden Elemente ihres Lebens, wie ihren Motorradführerschein oder ihre Liebe zum Kampfsport oder erst recht zum Fallschirmspringen, bei der Bewerbung tunlichst unter den Tisch fallen lassen („Hobbyfalle“). Überhaupt scheinen Bewerbende in ihrem Leben stets überdurchschnittlich vorsichtig, gesundheitsorientiert und besonnen gewesen zu sein – und ‚natürlich‘ frei von Lastern, Süchten, Irrwegen und schwerwiegenden Fehlern oder Problemen. Und wer auf seine Privatsphäre-Einstellungen oder Profile in den sozialen Netzwerken im Internet richtig achtet, dem können potentielle Arbeitgebende per Internetrecherche in der Regel auch nichts gegenteiliges nachweisen. Die genormten und möglichst ‚makellosen‘ Bewerbenden verbiegen sich in unterschiedlichem Maße, um sich auf dem Arbeitsmarkt und dabei zugleich ihre Persönlichkeit auf dem Persönlichkeitsmarkt erfolgreich zu verkaufen. Wer sich diesem Konformismus verweigert, der gilt als schlecht beraten, unvernünftig oder dumm.
Dieser Marketing-Charakter, welcher in den heutigen westlichen Gesellschaften als Gesellschaftscharakter vorherrscht, entfremdet den Menschen nicht nur im Arbeitsleben, sondern generell und beinahe total. Anstatt sich als individuellen Menschen mit Gefühl und Geist zu erleben, erlebt der Mensch sich als Ware auf dem Persönlichkeitsmarkt und sein Selbstwertgefühl beruht in Folge dessen schließlich auf seinem ‚Tauschwert‘ und seiner sozio-ökonomischen Rolle, auf Einkommen und Status. Er existiert als Abstraktion, er ‚ist‘ sein Beruf und seine gesellschaftliche Rolle. Seine Persönlichkeit passt er den Erfordernissen an. Durch die Notwendigkeit, die eigene Persönlichkeit mit zu verkaufen, wird der Mensch gleichzeitig zur Ware und zum Verkäufer dieser Ware – er verkauft (und verliert) sich selbst. Charaktereigenschaften wie Freundlichkeit, Höflichkeit und Angepasstheit werden zu essentiellen Bestandteilen der Selbstverkaufsstrategie. Selbst ehrenamtliches Engagement kann dem reinen Marketing-Charakter primär zur Aufwertung des Lebenslaufs dienen, anstatt Ausdruck von Nächstenliebe oder Erfahrungssuche zu sein.
Nein zur Entfremdung!
Der Psychoanalytiker und Humanist Erich Fromm warnte in seinem 1976 erschienenen und immer noch höchst aktuellen und lesenswerten Werk „Haben oder Sein“ vor den Auswirkungen des Marketing-Charakters: „Der Mensch kümmert sich nicht mehr um sein Leben und sein Glück, sondern um seine Verkäuflichkeit. Das oberste Ziel des Marketing-Charakters ist die vollständige Anpassung, um unter allen Bedingungen des Persönlichkeitsmarktes begehrenswert zu sein. Der Mensch dieses Typus hat nicht einmal ein Ich (wie die Menschen des 19. Jahrhunderts), an dem er festhalten könnte, das ihm gehört, das sich nicht wandelt. Denn er ändert sein Ich ständig nach dem Prinzip: ‚Ich bin so, wie du mich haben möchtest.‘“ Ein jeder und eine jede sollten ihr eigenes Leben vor diesem Hintergrund kritisch reflektieren. Denn in der Realität wird wahrscheinlich kein Tyler Durden auftauchen (wie in „Fight Club“), um sie von ihrer Existenz als Abstraktion zu befreien.
Patrick Henkelmann
3 comments
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Zu einseitig oder?
Naja, so krass findet verzerrung nur statt, wenn man echt keine ahnung von „sich verkaufen“ hat. Sich vorstellen bedeutet nicht, dass man grundsätzlich lügen muss. Egal für welchen Beruf bzw. welche Arbeit man sich bewirbt, man hat es zwangsläufig mit Menschen zu tun. Da sollte man ein mindestmaß an Sozialkompetenz beweisen, wer sich vorstellen kann und die nötigen Softskills besitzt, der schafft das. Ich hätte in so einem Artikel wahrscheinlich eher kritisiert, dass Personalchefs (zumindest von Großbetrieben) zu oft die Qualifikation, als viel mehr den Charakter in den Vordergrund stellen.
Ich würde zehnmal lieber jemanden als Verkäufer einstellen, der Motorrad fährt, dafür aber weiß wie er mit Kunden umgehen soll, als jemanden, der eine 1- in Sozialwissenschaften hat aber es nichtmal mehr schafft übers Wetter zu reden.
Wie dem auch sei: Der Artikel ist inhaltlich ganz ok, geht mir aber zu stark in eine Richtung und es fehlt irgendwie der Dialekt.
Über eine baldige Antwort oder eine Frage auf meinen Kommentar würde ich mich sehr freuen.
Antwort des Autors
Pardon, dass ich leider erst jetzt zum Antworten komme.
BewerberInnen nach ihren tatsächlichen, für den jeweiligen Beruf relevanten Fähigkeiten – zu denen auch die Sozialkompetenz gehören kann – auszuwählen, ist ja vollkommen in Ordnung. Auch sollten die formalen Qualifikationen wirklich nicht so überbewertet und besser stets auf ihre Aussagekraft hin überprüft werden. Die Bewertung des „Charakters“ ist jedoch eine zweischneidige Angelegenheit, je nachdem wer wen diesbezüglich unter welchen Kriterien bewertet: einerseits kann es geboten sein, auf den (anscheinenden) „Charakter“ zu schauen, andererseits kann es zu einer Überbewertung der Sozialkompetenz führen oder schlimmer noch, zur Verstärkung des gesellschaftlichen Konformismus im Geiste eben des Marketing-Charakters.
Danke Schön
Danke für die Antwort.
Wie soll denn Gleicheinheitlichkeit durch Sozialkompetenz geschaffen werden? In unserer Gesellschaft werden doch gerade Gefühle und das Wesen unterschätzt. Also lesenswert fand ich dazu auf jeden Fall: Wer bin ich und wer ja wenn wieviele.
MfG
M.P.