Wie jedes Jahr nimmt Deutschland auch 2025 am Eurovision Song Contest teil. Zuletzt war man dabei nicht sonderlich erfolgreich, die Bilanz der letzten zehn Jahre sieht sehr mau aus: Neben zwei Überraschungserfolgen von Michael Schulte im Jahr 2018 (4. Platz) sowie Isaak im vergangenen Jahr (12. Platz) verbuchten die deutschen Teilnehmer:innen vier letzte und drei vorletzte Plätze.
Das soll sich dieses Jahr nicht noch mal wiederholen. In der Schweiz soll das Duo Abor & Tynnaden Karren aus dem Dreck ziehen, bestehend aus den Geschwistern Attila (26) und Tünde Bornemisza (24). Mit ihrem Song „Baller“ scheinen sie damit einen Nerv getroffen und einen Hit gelandet zu haben – schaut man sich die Kommentare unter dem Auftrittsvideo des Songs auf dem internationalen Youtube-Kanal des Eurovision Song Contests (über 1 Million Aufrufe) an: „So good. This needs to win, it’s modern, very 2020s and will become a hit!“, schreibt etwa ein User. „Best offer from Germany in years!“, hält ein anderer fest. „Finally Germany coming with something cool since Lena. This is such an earworm”, adelt ein weiterer User den Song.
Bis man einen ersten negativen Kommentar findet, muss man ewig scrollen. Der Grundtenor ist sehr positiv. Etliche Kommentierende scheinen es auch sehr zu begrüßen, dass Deutschland zum ersten Mal seit 2007 wieder mal einen deutschsprachigen Beitrag ins Rennen schickt. Damals trat Roger Cicero mit dem Song „Frauen regier’n die Welt“ auf. Viele in den Kommentaren freuen sich auf einen „deutschen Vibe“.
Schaut man sich die Kommentare unter dem Auftrittsvideo auf dem deutschen ESC-Account (über zwei Millionen Aufrufe) an, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die Kommentare zerreißen den Song auf allen Ebenen – eine regelrechte 180-Grad-Wendung: Zu schlecht gesungen, zu austauschbar, schlicht zu schlecht und nicht konkurrenzfähig soll der sein. Hier scrollt man eher lange, bis man erste positive Kommentare findet und die Kommentare lauten eher so: „Wir landen auf dem alalalalalalalalalalaletzten Platz“ (über 1.000 Likes) oder „Hab das Lied meinem Onkel im Rollstuhl vorgespielt aber dann ist er aufgestanden um es wieder aus zu schalten“ (über 2.400 Likes). Ein weiterer schreibt: „Das soll der beste Song sein?! Sie kann nicht singen, nicht atmen. Der Song ist belanglos. Komplett “ballerballer“ (über 1.400 Likes). Was unter die Gürtellinie geht, habe ich hier vorsichtshalber mal außen vorgelassen. Die Häme der User scheint keine Grenzen zu kennen – nicht mal unter dem eigenen Posting des Duos auf Instagram. Auch dort reiht sich Hate- an Hate-Kommentar.
Das kann doch nicht sein, Deutschland!? Was sagt das über unsere Mentalität aus? Haben wir verlernt, optimistisch zu sein, Euphorie zu entwickeln, ja schlicht Hoffnung und Fantasie zu haben? Oft scheint es so, als geben viele hierzulande Dingen oft nicht mal eine Chance – Hate aus Prinzip scheint deutlich verbreiteter zu sein.
Klar, Kritik ist in Ordnung und das muss auch so sein. Aber es ist nicht damit zu erklären und zu rechtfertigen, dass die Meinungen in Deutschland zum Song so konträr zu denen im Ausland stehen. Das kann nicht mit konstruktiver Kritik erklärt werden. Die Niederreder-Mentalität lässt jede Euphorie im Keime ersticken.
Dass wir es doch eigentlich doch noch können, hat die Heim-EM im vergangenen Jahr gezeigt. Um die Nationalmannschaft entstand ein Hype – und das nach langwierigen Jahren des Niederredens, des Murrens und Besserwissens.
Die deutschen ESC-Beiträge scheinen über diese Phase noch nicht hinaus zu sein. Auch der letztjährige 12.-Platzierte Isaak wurde vor dem ESC-Wettbewerb mit Hate und Häme quittiert.
Dabei kann das bei Künstler:innen zu einer großen Verunsicherung führen. Abor & Tynna stehen am Anfang ihrer Karriere, noch nicht alles kann da perfekt sein. Ziel sollte es da aber sein, zu er- und nicht zu entmutigen. Die Nationalmannschaft dürfte dies bei der Heim-EM auch sicherlich beflügelt haben. Auch wenn es nicht zum EM-Sieg gereicht hat, dürften die meisten hierzulande das Turnier in positiver Erinnerung haben. Können wir eine solche Geschichte nicht auch mal beim ESC schreiben?
Der Song hat doch eigentlich beste Voraussetzungen dafür: Endlich mal wieder ein deutschsprachiger Beitrag, was scheinbar insbesondere im Ausland auf sehr viel Begeisterung stößt. Ein charismatisches und authentisches Geschwisterduo. Eine originelle Melodie mit einzigartigem Cello-Einsatz. Ein Song, der ballert.
Auch über den Song hinausgehend steckt dahinter eine echt schöne Geschichte, die verbindet. Mit Abor und Tynna tritt für Deutschland ein österreichisches Duo mit rumänischen und ungarischen Wurzeln in der Schweiz an. Besser gehts doch gar nicht für die Idee und Vision des Eurovision Song Contests.
International wird all das anerkannt. Und in Deutschland? Naja, da ist man eben typisch deutsch. Wenn du auch so bist, ändere das doch mal, und gib Neuem erstmal eine Chance, bevor du dich vom typischen Niederreder-Reflex leiten lässt! Fühlt sich gut an!
:Leon Hartmann
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