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Offline-Sehnsucht. An der Ruhr-Universität Bochum startete am 12. April die Vorlesungszeit des zweiten Sommersemesters unter Covid-19-Bedingungen. Für die Studierenden bedeutet das wieder einmal Home-schooling statt Hörsaal. Zeit für einen Lagebericht.

Wer vom Bochumer Hauptbahnhof auf dem schnellsten Weg zur Ruhr-Universität möchte, kommt an der U35 nicht vorbei. Die seit 1989 betriebene Stadtbahn, die zwischen Herne und Bochum hin und her pendelt und am Tag über 94.000 Fahrgäste befördert, dient den meisten Studierenden, Beschäftigten und Besucher:innen der größten Hochschule des Ruhrgebiets immer noch als Verkehrsmittel der Wahl. Wenn es gut läuft, bringt sie im Minutentakt mehr als 5.000 Menschen pro Stunde vom Bahnhof zur Uni. Im April 2021 ist davon allerdings nicht viel zu spüren. Die Coronapandemie hat den Alltag an der Ruhr-Universität und damit auch den Bahnbetrieb nach wie vor fest im Griff. Als an diesem Mittwochmorgen ein kühler Luftzug die einfahrende U-Bahn ankündigt, ist der Bahnsteig, wo sich normalerweise Hunderte an den Rand des Gleises drängen, um wenigstens noch einen Stehplatz zu ergattern, menschenleer.  

Nicht nur am Hauptbahnhof, auch auf dem Campus der RUB deutet auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass gerade die Vorlesungszeit des neuen Sommersemesters begonnen hat. Kein Wunder. Wie schon in den beiden Semestern zuvor finden wegen Corona auch diesmal fast alle Lehrveranstaltungen und Prüfungen ausschließlich online statt. Von dieser Regel ausgenommen sind Praktika und Übungen, die sich nicht vom heimischen PC aus absolvieren lassen und die Anwesenheit auf dem Unigelände voraussetzen. Da außerdem alle Arbeitsplätze in den Bibliotheken und Fakultätsgebäuden bis auf Weiteres geschlossen bleiben, überrascht es nicht, dass auf der Brücke zwischen Haltestelle und Bibliothek, wo sich um diese Zeit sonst unzählige Studierende ihren Weg zu den Hörsälen und Seminarräumen bahnen, an diesem sonnigen Vormittag nur vereinzelt Menschen mit Masken umherschlendern. 

Wie empfinden die Studierenden die veränderten Lehrbedingungen? 

Vor dem Gebäude der medizinischen Fakultät steht Carlos (24) und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Er kommt aus Spanien, studiert im vierten Mastersemester Biologie und ist wegen eines Laborpraktikums an der Uni. Der derzeitigen Situation kann er nicht viel abgewinnen. Er vermisst vor allem sein Sozialleben. Auf die veränderten Studienbedingungen angesprochen, sagt er, dass es zwar bequem sei, von zuhause aus Seminare und Vorlesungen zu besuchen, aber er habe manchmal den Eindruck, dass einige Dozierende die Möglichkeiten der digitalen Ressourcen zum Teil nicht richtig nutzen würden. Außerdem sei er am eigenen Computer schneller abgelenkt, weshalb es ihm oft schwerfalle, den Veranstaltungen zu folgen. 

Anna (22) kommt gerade von der Arbeit an ihrem Institut. Die Bochumerin studiert im sechsten Semester Medienwissenschaften und sieht die momentane Situation weniger kritisch. Ihr gefällt vor allem, dass sie öfter Veranstaltungen nach Interesse und nicht nur mit Blick auf die benötigten Creditpoints wählen kann. Da zum Beispiel Vorlesungen nicht mehr wie früher vor Ort zu einer bestimmten Uhrzeit stattfinden, was den Besuch einer gleichzeitig laufenden Veranstaltung unmöglich machte, sondern jetzt auch als Aufzeichnung oder Podcast verfügbar sind, sei man in seiner Stundenplangestaltung und Zeiteinteilung deutlich flexibler. Außerdem findet sie, dass die Umstellung aufs Online-Format der Stimmung in den Seminaren zugutekomme. Während früher oftmals nur wenige Teilnehmer mit den Dozierenden diskutiert hätten, würden sich im Schutz der eigenen vier Wände jetzt deutlich mehr Studierende aus der Deckung wagen und aktiv an den Debatten teilnehmen. Auf die Frage, ob sie der Meinung sei, dass eine Rückkehr zur Präsenzlehre deshalb überflüssig sei, zieht sie die Augenbrauen hoch. „Auf keinen Fall.“, sagt sie. Zu einem Studium gehöre schließlich nicht nur die Vermittlung von Fachwissen, sondern ebenso der spontane Austausch mit den Kommiliton:innen und die reale Begegnung auf dem Campus. 

Das sehen Marc (27) und Andre (25) ähnlich. Die beiden angehenden Historiker waren zum Bücherausleihen in der Fachbibliothek und ärgern sich über das umständliche neue Ausleihverfahren. Wie Anna sind sie der Meinung, dass das Online-Studium mehr Freiheiten mit sich bringt. Doch auch ihnen fehlt der Kontakt zu den Mitstudierenden und die Diskussionen nach dem Seminar bei einem Kaffee oder in der Mensa. Dass man sich in einem Zoom-Seminar eher überwinden würde, etwas zur Diskussion beizutragen, kann Marc nicht bestätigen. Da der direkte Blickkontakt auf dem Bildschirm fehle und man nie wisse, wer einem gerade über die Webcam zuschaut, fühle man sich ständig beobachtet und habe daher sogar noch mehr Hemmungen als bisher.  

Es ist 11.45 Uhr, Vorlesungsende. Vor den Gebäuden der geisteswissenschaftlichen Fakultäten, wo sich um diese Zeit sonst viele Studierende treffen, um gemeinsam eine zu rauchen, Kaffee zu trinken, oder die Zeit bis zur nächsten Veranstaltung auf der gegenüberliegenden Wiese in der Sonne zu vertrödeln, ist heute kein Mensch. Die Sitzgelegenheiten vor den Hörsälen sind mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Bis auf einige Plakate vom letzten Februar, die einen Infotag gegen sexuelle Belästigung bewerben, sind die sonst in mehreren Schichten mit Veranstaltungshinweisen zugeklebten Wände jetzt leer. Das studentische Leben auf dem Campus steht weitgehend still. Auch die Mensa hat geschlossen. Auf dem Forum zwischen Bibliothek und Audimax sitzen zwei junge Frauen und essen Pizza. Das auf dem Campus gelegene Café-Restaurant „Q-West“ bietet unter der Woche von elf bis 14.30 Uhr trotz Uni-Lockdown immerhin noch eine breite Auswahl verschiedener Gerichte an. Natürlich to go. 

Carla und Juhee sind gerade auf dem Weg dorthin. Sie wirken gut gelaunt. Da sie keine Maske tragen, sieht man sie lächeln. Obwohl sie damit gegen die seit Oktober 2020 auf dem gesamten Campus bestehende Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes verstoßen, werden die beiden einundzwanzigjährigen Erasmusstudentinnen, die sich in einem Online-Deutschkurs kennengelernt haben, nicht von der in gelben Warnwesten patrouillierenden Security behelligt. Carla kommt aus Italien und studiert Politikwissenschaften. Juhee stammt aus Südkorea und studiert deutsche Literatur. Natürlich fehlen ihnen, wie den meisten, die sozialen Kontakte, die Debatten und der Austausch von Ideen mit Anderen. Dennoch glauben sie, dass sie der Lockdown in einem fremden Land stärker und unabhängiger macht. Schließlich müssen sie in dieser schwierigen Situation erst recht beweisen, dass sie auf sich allein gestellt zurechtkommen können. Die beiden stört vor allem, dass sie weniger Gelegenheiten haben, ihr Deutsch zu verbessern, weil ihnen der Kontakt zu den einheimischen Studierenden fehlt. E-Learning stellt für sie keine Alternative zum normalen Unialltag dar. Zu wichtig sei es, sich mit anderen von Angesicht zu Angesicht über wissenschaftliche Probleme auszutauschen und durch den nicht nur virtuellen Kontakt zu verschiedenen Menschen und Meinungen auch als Persönlichkeit zu wachsen. Dies könne kein Zoom-Meeting ersetzen. 

Was sagen die Lehrenden? 

Die Ansichten der Studierenden zum Thema Online-Lehre decken sich in weiten Teilen mit denen der Dozierenden. Bereits im vergangenen Jahr forderten mehr als 2.000 Hochschulprofessor:innen aus ganz Deutschland in einem offenen Brief eine behutsame Rückkehr zur Präsenzlehre. Insbesondere der Wegfall, der für die persönliche Entwicklung wichtiger sozialer Aspekte eines Studiums, könne durch keine noch so ausgefeilte digitale Plattform kompensiert werden, so die Beteiligten. Auch in Bochum blickt man mit gemischten Gefühlen auf die aktuellen Verhältnisse. Zwar könne die reine Wissensvermittlung in Vorlesungen womöglich auch in Zukunft digital stattfinden. Problematisch sei aber, dass sich derzeit keine Arbeits- oder Lerngruppen bilden können, sodass ein vertieftes Verstehen des Stoffs durch den Austausch mit anderen vor allem für Studienanfänger auf der Strecke bleibe, erklärt ein Bochumer Professor für Philosophie. Er habe auch feststellen müssen, dass die Bereitschaft der Studierenden, sich an Diskussionen zu beteiligen, in Online-Seminaren geringer sei als vorher. Somit leide in seinem Fach unter der momentanen Situation insbesondere die Entwicklung der Fähigkeit, sich im Gespräch argumentativ mit der Meinung anderer auseinanderzusetzen. Seminare und Übungen sollten daher zukünftig wieder an der Uni stattfinden. 

Wolfgang Schuhmann, Professor für Analytische Chemie an der RUB, sieht dies ähnlich. Auch er betrachtet Vorlesungen im Videoformat als weitgehend unproblematisch, betont jedoch, dass man in der Chemie unmöglich auf Präsenzveranstaltungen verzichten könne. Dies liege zum einen in der Natur des Fachs. Schließlich gehören Experimente und Praktika zum Alltag der Studierenden. Zum anderen sei das unmittelbare Miteinander von Lernenden und Lehrenden aber auch notwendig, um die Arbeit im Team und das gemeinsame Lösen komplexer Probleme zu lernen. Insgesamt glaubt Schuhmann, dass in seinem Fachbereich auch nach Corona vieles digital bleiben wird. Ein Problem sei das nicht. Im Gegenteil. So könne man zum Beispiel unter Videobegleitung in Zukunft auch über Ländergrenzen hinweg mit anderen Wissenschaftlern gemeinsam experimentieren oder auch Lehrveranstaltungen internationaler Universitäten in das eigene Lehrangebot integrieren. Positiver Nebeneffekt: Da man nicht mehr jedes Mal mit dem Auto zur Nachbaruni fahren oder als externer Gutachter bei einer Doktorprüfung in ein Flugzeug steigen müsse, sei der Ausbau und die vermehrte Nutzung der digitalen Möglichkeiten an Universitäten obendrein gut fürs Klima. 

Die Ruhr-Universität Bochum hat das Sommersemester 2021 zunächst als „flexibles Hybridsemester“ geplant. Zwar finden die meisten Veranstaltungen zu Beginn ausschließlich online statt, allerdings wolle man sich vorbehalten, auf eine sich verändernde Pandemiesituation zu reagieren und gegebenenfalls im Laufe des Semesters mit einigen Veranstaltungen auf den Campus zurückzukehren. Bleibt also zu hoffen, dass sich die Lage bald verbessert. Denn auch, wenn die Digitalisierung in manchen Aspekten durchaus eine Bereicherung des Lehr- und Forschungsbetriebs darstellen mag, scheinen sich Studierende und Lehrende gleichermaßen darüber einig zu sein, dass das Homeschooling den Hörsaal auch in Zukunft nicht ersetzen kann. 

Gastautor :Marvin Rosenhoff 

 

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