Kommentar. Ein Schulsystem, welches die Klassengesellschaft reproduziert, will von Gleichstellung und Chancengleichheit nichts wissen.
Unzählige PISA-Studien haben immer und immer wieder bestätigt, dass der Erfolg im Bildungssystem in Deutschland stark von dem
sozioökonomischen Status des Elternhauses abhängt, also zum Beispiel davon, wieviel verdient wird oder welchen Bildungsstand die Eltern aufweisen. In der dritten Klasse beginnt der Konkurrenzkampf mit der Vergabe von Noten und nach der vierten Klasse entscheidet eine Empfehlung darüber, wie hoch oder niedrig die zukünftigen gesellschaftlichen Teilhabechancen von Schüler*innen liegen. Diese Empfehlung ist so eng mit der Herkunft verknüpft, dass ein Kind der Oberschicht eine viermal höhere Chance hat, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als ein Kind aus einer Arbeiter*innen-Familie, trotz gleichen kognitiven Fähigkeiten.
Die weiterführenden Schulen Gymnasium, Realschule und Hauptschule treten das Konzept von Chancengleichheit so dermaßen mit den Füßen, dass eine 16-jährige Hauptschülerin mich in meinem Praktikum, bei dem ich Lehrkräfte im Unterricht unterstütze, anraunte, dass ich doch eh nur hier sei, um mich über sie lustig zu machen. Jedem Kind wird vermittelt, dass das Gymnasium gut sei und die Hauptschule schlecht. Die Stigmatisierung, faul, dumm und wenig wert zu sein, die die Schüler*innen erfahren, wenn sie auf eine Haupt- oder Realschule gehen ist tiefgreifend. Gefährlich wird es erst recht für die jungen Biographien, wenn das familiäre Umfeld das geschädigte Selbstwertgefühl nicht auffangen kann.
Nun, dass Kinder unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten besitzen ist unumstritten. Dennoch rechtfertigt das Förderungsargument, dass die guten Schüler*innen von langsameren Schüler*innen gezwungen werden, ihr Potenzial zu unterdrücken, nicht das Drei-Klassen-System in der Bildung. Gesamtschulen haben gezeigt, dass sich auch innerhalb einer Schule Kinder mit verschiedenen Lernniveaus aufhalten können.
Eine Segregation in verschiedene Gruppen gibt es auf dem Schulhof so oder so – nur ohne, dass im Vorhinein nach sozioökonomischen Status selektiert wurde. Mit Österreich ist Deutschland das einzige Land, in dem die Selektion in der Bildung so früh stattfindet.
Auch, wenn es den Schüler*innen auf dem Gymnasium sicherlich nicht schadet, in einer Blase der Mittel- und Oberschicht unterrichtet zu werden und auch, wenn der starke Leistungsdruck sicher zur Stressresistenz beiträgt, sind diese Errungenschaften mit einen hohem Preis bezahlt worden: dem Recht auf gleiche Teilhabe. Schwächere Schüler*innen werden abgehängt und ausgegrenzt.
Und wie so oft, wenn es um Teilhabe geht, müssen gewisse Teile der Gesellschaft bereit sein, ihre Privilegien abzugeben, damit die anderen – und oft auch sie selbst – davon profitieren können. Die Schwarz-Gelbe Landesregierung in NRW scheint daran eher wenig Interesse zu haben. Ganz nach dem Motto der Eliteförderung gingen die meisten Zuschüsse des Bildungshaushaltes 2018 an Gymnasien.
Es kann unmöglich von wahrhaftiger Chancengleichheit gesprochen werden, solange wir in dieser Republik noch in großen Teilen ein altes und starres Schulsystem vorfinden, in dem Zehnjährige in Boxen gesteckt werden, die den sozioökonomischen Klassen der Gesellschaft entsprechen.
Unsere Welt verändert sich. Bildung wird zu einem immer wichtigeren Gut und unsere Gesellschaft wird immer komplexer. Es ist an der Zeit so vielen wie möglich – und nicht nur den Besten – einen Zugang zur guten Bildung zu ermöglichen.
:Meike Vitzthum
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