Interview. Kriminalpsychologin Justine Glaz-Ocik vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt beantwortet die wichtigsten Fragen zu diesem Phänomen.
:bsz: Was ist Stalking?
Justine Glaz-Ocik: Stalking ist letztendlich ein Verhalten. Ein Verhalten, das darauf abzielt, Kontakt, in welcher Form auch immer, herzustellen und zwar zu einer Person, die das nicht möchte. Nachstellung ist ein Phänomen, bei dem eine Person eine andere Person verfolgt, nachstellt, Informationen ausspäht oder anderes Verhalten ähnlicher Art durchführt, wobei das gegen den Willen der betroffenen Person ist. Man kann dann von Stalking sprechen, wenn die Kommunikation einseitig, also, wenn die betroffene Person klar macht, dass sie den Kontakt nicht möchte, aber dieser Wunsch missachtet wird und es Kontaktversuche jeglicher Art gibt.
Welche Arten von Kontaktversuchen gibt es?
Das geschieht durch verschiedene Kanäle. Häufig auftretende Kanäle sind Anrufe über das Telefon oder Nachrichten über soziale Medien. Aber auch, dass E-Mails oder SMS verschickt werden. Dann kann es natürlich auch so aussehen, dass der Person hinterhergelaufen oder mit dem Auto hinterhergefahren wird oder befreundete Personen ausgespäht werden. Manchmal geht es auch in die Richtung, dass versucht wird, Einfluss auf die betroffene Person über Dritte zu nehmen. Also Verhalten, welcher Form auch immer, welches das Ziel hat, Aufmerksamkeit zu erregen und Kontakt aufzunehmen.
Wie fängt Stalking an?
Es gibt unterschiedliche Konstellationen beim Stalking. Meist folgt Stalking nach einer Trennung, Zurückweisung oder einer Kränkung, die stattgefunden hat, die der später stalkenden Person nicht gefallen hat. Die größte Gruppe in Stalkingfällen sind die Expartner. Es hat eine Intimbeziehung zwischen zwei Personen gegeben. Die eine Person hat Schluss gemacht, die andere Person will das nicht akzeptieren und zeigt Verhalten von Stalking. Hier geht Stalking sehr schnell. Am Anfang ist es dieses klassische „wir reden noch einmal miteinander“, aber dann merken die Betroffenen sehr schnell, dass das gegen ihren Willen geschieht. Wenn es zum Beispiel um andere Konstellationen wie berufliche oder zunächst freundschaftliche Kontakte geht, haben wir eine ähnliche Dynamik. Vielleicht werden am Anfang mit der stalkenden Person noch Gespräche geführt. Aber dann werden die Kontaktversuche übergriffig, grenzüberschreitend. Auch da bemerken die Betroffenen sehr schnell, dass sie das nicht wollen. Es gibt nicht den klassischen Startpunkt.
Welche Auswirkungen hat Stalking auf die Betroffenen?
Die Betroffenen reagieren ganz unterschiedlich auf Stalking. Man kann sagen, dass etwa 12 Prozent der in Deutschland lebenden Bevölkerung einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen sind. Das ist eine sehr hohe Zahl. Da sind allerdings auch die leichten Stalkingfälle inbegriffen. Also Fälle, die von kurzer Dauer sind und die nicht Angst auslösen, sondern wo es zu einer Beunruhigung bei den Betroffenen, vielleicht zu einem Unverständnis oder Wut, aber nicht zu Angst kommt. Deswegen kann man auch nicht pauschal sagen, wie es den Betroffenen geht. Von Beunruhigungen über Angststörungen bis zu Panikattacken und maximaler Verunsicherung oder Symptome, die auf eine Traumatisierung hinweisen, ist alles mit dabei. Meistens fühlen sich die betroffenen Personen unsicher, haben das Gefühl, nicht mehr kontrollieren zu können, was um sie herum passiert, wissen nicht mehr, wem sie noch trauen können, wem sie das nächste Mal ihre Telefonnummer geben dürfen oder wem sie was anvertrauen können, weil Stalker oft versuchen, über Dritte an die Betroffene heranzukommen. Es gibt allerlei Konsequenzen für die Betroffenen, sowohl auf beruflicher als auch auf sozialer Ebene.
Wie werden Personen zu Stalker*innen?
Die meisten Stalker, aber nicht alle, sind sehr unglückliche Personen. Ihnen geht es nicht gut. Die allermeisten Stalker stalken auch nicht, weil sie Lust oder Spaß daran haben, die betroffene Person zu terrorisieren. Meistens steckt eine massive Verletzung oder Kränkung dahinter. Stalker selbst sind fixiert auf die betroffene Person. Viele sagen, sie können nicht anders, sie denken permanent an die betroffene Person. In psychischer, aber auch emotionaler Hinsicht sind die Stalker in einer Art Fixierungsschleife drin.
Wo können stalkende Personen Hilfe bekommen?
Auch für die Stalker gibt es, je nachdem, wo man in Deutschland lebt, verschiedene Beratungsstellen, an die man sich wenden kann. Eine der größten Beratungsstellen bundesweit ist Stop Stalking. Leider gibt es aber noch nicht so viele Beratungsstellen. Es passiert diesbezüglich schon viel in Deutschland in den letzten Jahren, aber wir haben noch Luft nach oben. Alternativ sind auch Lebensberatung oder Krisenberatungsstellen hilfreich, um Stabilisierung zu erhalten. Wobei die Frage ist, wie vertraut die Berater und Beraterinnen, Psychologen und Psychologinnen mit dem Phänomen Stalking sind. Also sowas wie „setzt euch mal zusammen und redet miteinander“ oder Täter-Opfer-Ausgleich im klassischen Sinne sind beim Stalking vollkommen unangebracht. Diese klassischen Formen helfen nicht, bei dem es um das Zusammensetzen mit den Betroffenen geht. Wenn in einer Therapie oder Beratung weiterhin Gespräche geführt werden, wäre das kontraproduktiv. Weil eben die Fixierung auf die betroffene Person so enorm groß ist, dass es möglicherweise alles überschattet. Deswegen ist es wichtig, dass die Beraterinnen oder Berater auf Stalking spezialisiert sind oder sich mit Stalking auskennen. Ansonsten erhalten die Täter eine Beratung oder Therapie, die kontraproduktiv ist.
Was für dauerhafte Auswirkungen hat Stalking?
Viele Betroffene sagen, dass selbst als das Stalking aufgehört hat, sie noch Angstgefühle hatten, dass sie vorsichtiger sind und ein erhöhtes Bedürfnis nach Schutz haben. Viele sagen, dass ihnen ein Stück weit das Grundvertrauen verloren gegangen ist. Die meisten von uns gehen morgens aus dem Haus und sind nicht misstrauisch anderen Menschen gegenüber. Wenn man aber selbst betroffen war von massivem Stalking, dann ist das alles nicht mehr so selbstverständlich, weil dieses Grundvertrauen, mit dem wir ausgestattet sind, dass andere Menschen uns nichts böses wollen, bei Stalking verloren geht.
Was können die Betroffenen machen?
Die Betroffenen können sich direkt Unterstützung holen. Unterstützung bei Beratungsstellen suchen und das, was ihnen widerfährt, melden.
Auf der anderen Seite kann man sich dementsprechend Verhalten. Grundsätzlich gilt: direkter und konsequenter Kontaktabbruch. Verhaltensweisen besprechen, wie ich mich in bestimmten Situationen verhalten kann, wenn ich den Stalker zufällig treffe und wie ich meine Tagesstrukturen anpasse. Da kann eine Beratungsstelle Hilfe leisten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass alles, also wirklich alles, was im Falle des Stalkings auftritt, dokumentiert wird, auch wenn es dazu keine Zeugen gibt. Dokumentation bedeutet, dass ich Zeiten und Orte notiere und beschreibe, was passiert ist, auch wenn der Stalker nur guckt. Wenn es Belege für das Verhalten gibt, sollten diese Belege auch gesichert werden. Auch wenn das Bedürfnis der Betroffenen oft so groß ist, die Nachrichten zu löschen, bitte nicht löschen. Vielleicht speichern oder Screenshot machen, wenn es um bestimmte Einträge in den sozialen Medien geht.
Betroffene können auch zur Polizei gehen. Aber auch hier würde ich empfehlen, dass zugleich eine Beratungsstelle informiert ist und zwar aus folgenden Hintergrund: Die Polizei hat, je nachdem, wo man in Deutschland lebt, sehr gut aufgestellte Strukturen, aber nicht immer sind die Ressourcen vorhanden. Die Polizei ist für bestimmte Felder der optimale Ansprechpartner, wenn es um Grenzbeziehungen geht oder um die Erhöhung der Sicherheit. Aber wenn es um Verhaltensweise geht, vor allem auch um die emotionalen Belangen der Betroffenen, dann sind Beratungsstellen besser aufgestellt. Denn auch emotionale Unterstützung ist wichtig.
Schwierig wird es sicher, wenn der Stalker oder die Stalkerin angibt, die oder der Betroffene zu sein.
Genau. Gerade weil es den Tätern so schlecht geht, denken sie oftmals, dass sie selbst betroffen und notleidendend sind. Organisationen stehen vor dieser großen Herausforderung. Wenn es zwei Leute gibt und jeder sagt, der andere sei der Täter, muss irgendwie die Organisation entscheiden, gegen wen welche Maßnahmen verhängt werden. Auch da können sich Organisationen Unterstützung durch Berater und Beraterinnen einholen. Stellen wie das I:P:Bm beraten Hochschulen und Unternehmen in solchen Fällen. Weil es gerade so schwer ist, zu entscheiden und zu erkennen, was jetzt hilfreich ist. Einmal wäre die Beratung der betroffenen Person hilfreich, aber wenn es sich auch ein Unternehmen oder universitären Kontext handelt, macht es Sinn, dass die Organisation selbst, wenn sie keine Fachberatung vor Ort hat, noch einmal Beratungsstellen kontaktiert. Auch im Sinne der Risikoeinschätzung, wenn es psychische Übergriffe gegeben hat, ist es vom Interesse der Unternehmen, Gewalttaten und Straftaten auf dem eigenen Gelände bestmöglich zu vermeiden. Da hat sich in Deutschland und im gesamten internationalen Raum der Ansatz Bedrohungsmanagement durchgesetzt. Das hilft dahingehend, dass man gewalttätige Situationen rechtzeitig erkennt und bewertet. Bedrohungsmanagement ist ein vielversprechender Ansatz, um langfristig eine Verbesserung herzustellen.
Was sollte man bei Stalking vermeiden?
Wenn man sich nicht mit Stalking auskennt, ist die Denkweise, dass es irgendwann aufhören und der Täter es begreifen muss, selbstverständlich. Aber der Stalker wird meistens nicht einsichtig und das wissen betroffene Personen oftmals nicht. Deswegen allgemein der Tipp und Vorschlag: Wenn eine Person das Gefühl hat, gegen ihren Willen kontaktiert oder verfolgt zu werden, ist es wichtig, sich direkt Hilfe zu holen, damit man schnellstmöglich eine Grenze setzen kann und nicht erst nach vielen Monaten, wenn sich die Eskalation bereits zugespitzt hat.
Wenn die betroffene Person sich schon so gut vom Täter abgeschottet hat, dann wird meistens versucht, noch über Dritte zu gehen. Ziel ist es, letztendlich immer an die betroffene Person heranzukommen, Nachrichten zu hinterlassen und Kontakt zu suchen. Betroffene Personen verlieren deswegen auch ihr Urvertrauen, weil sie nicht wissen, wem in ihrer Umgebung sie noch trauen können oder merken, dass die Belastung in ihrem Umfeld zunimmt, weshalb die Betroffenen ein schlechtes Gewissen bekommen. Es ist recht komplex. Was dabei allgemein zu beachten ist: Wenn Dritte von dem Stalker kontaktiert werden, dann kann es manchmal zu einer Verschärfung der Dynamik dahingehend kommen, dass das Umfeld der betroffenen Person anfängt, sich in das Geschehen einzumischen. Anfängt mit dem Stalker oder der Stalkerin zu diskutieren oder aktiv zu werden, das führt meistens zu einer Verschärfung der Dynamik. Auch bei der Beratung wird geschaut, wie man das eigene Umfeld, die eigenen Freunde oder andere Personen weitestgehend dahin bringen kann, dass sie die Füße stillhalten. Wenn Dritte involviert sind, steigt das Risiko, dass der Fall sich verschärft.
Was raten Sie den Betroffenen?
Was ich von betroffenen Personen nach wie vor höre, ist, dass betroffene Personen die Ursache erstmal bei sich suchen: Was habe ich falsch gemacht, dass die Person mein Verhalten missversteht? Was habe ich falsch gemacht, Hoffnung bei der Person zu wecken? In dieser Schuldsuche und Schuldzuweisung entsteht manchmal das mächtige Gefühl der Scham. Dass man sich oftmals nicht traut, Beratungsstellen oder die Polizei aufzusuchen, weil man sich dafür schämt und denkt, man sei selbst daran schuld. Was ich gerne allen betroffenen Personen an die Hand geben möchte ist, dass sie nicht schuld sind. Stalking ist unfair, Stalking ist wirklich unfair. Stalking könnte jeden treffen. Es ist nicht die Schuld der Betroffenen. Sie haben nichts falsch gemacht, ganz und gar nicht. Aber manchmal spricht man einfach zur falschen Zeit mit der falschen Person. Und dann ist man plötzlich dafür verantwortlich, sein eigenes Leben umzukrempeln. Gleichzeitig haben die Betroffenen, mit denen ich spreche, den Wunsch nur etwas in ihrem Leben ändern zu müssen und dann hört das Stalking auf. Das ist häufig nicht der Fall, denn das Stalking hört nicht plötzlich auf. Das dauert. Deswegen braucht es eine längerfristige Beratung. Wenn ich möchte, dass es aufhört, ist eine gute Beratung meistens unumgänglich. Ich möchte allen Betroffenen Mut machen, sich an Beratungsstellen, die Polizei oder den Opferschutz zu wenden.
Das Interview führte :Maike Grabow
Das Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt bildet Fachpersonen zu Bedrohungsmanager*innen, Präventionsmanager*innen und Krisenmanager*innen aus. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen unterstützt es Behörden, Unternehmen und Hochschulen bei dem Aufbau eigener Strukturen in Bezug auf Bedrohungsmanagement. Dafür werden Seminare und Beratungen angeboten.
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