Glosse. 7 Uhr, der Wecker klingelt erstmals. Auf die Dusche kann ich heute eigentlich verzichten, Warmwasser ist eh abgestellt. 7:05 Uhr, zweites Klingeln, nur noch einmal „snooze“. Ich träum‘ von leeren Zügen …
… als mir um 7:30 Uhr das siebte Klingeln den Todesstoß von der Bettkante verpasst. Schon hört man mich schleifenden Schrittes zur Dusche schlendern. Lieber doch duschen, wer weiß, wie voll die Bahn heute wird.
Durch die halb geöffneten Augen tritt nur sperrig Licht, sparsame Atemzüge durch den Mundspalt. Die trägen Schwünge meiner Glieder setzen alle Innereien in Bewegung. In meinem Körper ist alles gestaut, alles drückt und presst und räumt sich mit wilden Umdrehungen mehr Platz ein. Genauso fühlt sich die Fahrt mit der U35 an. Schon der Gedanke an die bevorstehende Tortur: dicht aneinandergepresste Körper, triefende, miefende Sümpfe unter gehobenen Armen – warum müsst Ihr Euch immer oben festhalten, SO ENG STEHEND KANN HIER DOCH NIEMAND UMFALLEN! – und sinnentleerte, tiefschwarze Augen starren durch die Gegend. Man kann die grundlose Feindseligkeit förmlich riechen. Riechen? Achso, ja – doch nicht grundlos. Zurück in die Gegenwart, die Fahrt steht uns erst noch bevor. Morgendliche Rituale werden begleitet von gemischten Gefühlsregungen: das sanfte Kribbeln, der steigende Druck, die Entspannung. So muss sich die U35 an der Haltestelle Ruhr-Universität fühlen.
U35-Ausbau stagniert
Die großartigste Wochenzeitung Deutschlands informiert über ihre Titelseite: „U35 wird nicht verlängert.“ Der geplante Ausbau dieser einzigen U-Bahn, der einzigen Verbindung zwischen Hauptbahnhof und Universität, findet nicht statt. Keine U-Bahn von Langendreer zur Uni und keine Entlastung für die Strecke. Ob es sich lohnt, nach Langendreer zu ziehen, um nicht mehr mit der U35 fahren zu müssen? Fahren zu können. Nur Wunschträume. Die Busse sind nicht minder überfüllt und noch einen neuen Fahrplan auswendig zu lernen übersteigt meine Kapazitäten. Am Gleis wartend empfange ich frische Winde aus dem heller werdenden Tunnel und ein letztes Mal noch bläst mir mit Sauerstoff gefüllte Luft – oh du schöne, saubere Luft! – entgegen, bevor es in den Kampf geht. Durchatmen, bevor sich die Türen öffnen.
Der enttäuschte Blick in die Gesichter derer, die vom Hydraulik-Ton begleitet aus der Bahn quillen, reicht nicht, um zu signalisieren: „Ich komm da auch noch rein!“ Erst der angedrohte Drei-Meter-Anlauf Richtung U-Bahn-Tür setzt den grummelnden Mob in Bewegung. Hier vereinigen wir uns zu einer temporären Misanthropie-Masse, deren nach innen gerichteter Hass von einem kleinen, miesen Teufelchen geschürt wird: dem Verkehrsministerium. Und warum? Die Antwort liegt doch auf der Hand: Hier werden Studierende, die akademische Zukunft dieses Landes, gezielt gegeneinander ausgespielt. Abgelenkt vom blinden Hass, verlieren die Studis so ihr eigentliches Ziel aus den Augen und steigen nicht zur angestrebten Bildungselite auf. Denn dort würden sie ja merken, wie unsagbar überflüssig und inkompetent diese BeamtInnenmaschinerie ist.
Der Gedankengang wird vom beißenden Gestank unterbrochen. Ein Ellenbogen in der Hüfte und die Person hinter mir hat ihren Rucksack auf dem Rücken. Langsam kocht der Wutschweiß hoch und ich beschwichtige mich leise flüsternd: morgen lässt du halt auch das Duschen aus.
:Marcus Boxler
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