Die Wahl am Sonntag bedeutet einen Einschnitt für die türkische Politik. Die mehrheitlich kurdische, links und liberal geprägte HDP hat klar die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen. Die islamisch-konservative AKP von Präsident Erdoğan hat dadurch ihre seit 2003 bestehende absolute Mehrheit verloren.
Zwar bleibt die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) mit knapp 41 Prozent der Stimmen (258 Sitzen) die stärkste türkische Partei, doch kann sie ihre Alleinregierung nach dem Verlust von mehr als neun Prozent und dem Einzug der HDP nicht ohne weiteres fortsetzen. Erst recht ist Erdoğans Ziel gescheitert, eine Zwei-Drittel-Mehrheit der AKP zu erreichen und über jene per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem zu schaffen.
Zweitstärkste Partei wurde fast gleichbleibend mit etwa 25 Prozent (132 Sitzen) wieder die CHP (Republikanische Volkspartei), welche sich stark an den Prinzipien des Kemalismus orientiert. An dritter Stelle kommt die mit den Grauen Wölfen verbundene rechtsradikale MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), die ihr Ergebnis auf 16,5 Prozent (81 Sitze) verbessern konnte (2011: 13 Prozent). Als viertes kommt die HDP (Demokratische Partei der Völker) ins Parlament, welche dort zuvor bloß durch einen Zusammenschluss 29 unabhängiger KandidatInnen vertreten war – und nun mit etwa 13 Prozent der Stimmen 79 Sitze erlangt hat.
Wäre die HDP dagegen an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert, so wäre sie überhaupt nicht mehr im Parlament vertreten gewesen; ihre erreichten Direktmandate wären dann verfallen. Die HDP ist durch den Antritt als Partei also erfolgreich ein Risiko eingegangen, um die absolute Mehrheit der AKP zu brechen.
Wie geht es weiter?
Vonseiten der AKP wurde angedeutet, dass sie nun eine Minderheitsregierung zu bilden plant. Doch würde eine solche weder von der CHP noch von der HDP geduldet werden. Lediglich ein religiös-nationalistisches Bündnis zwischen AKP und MHP wäre möglich. Rechnerisch hätten alternativ CHP, MHP und HDP zusammen eine Mehrheit – doch auch wenn solch eine Querfront gegen Erdoğan nicht auszuschließen ist, gilt sie als unwahrscheinlicher. Jenseits von beiden Möglichkeiten blieben nur Neuwahlen. Die türkische Politik bleibt also spannend.
:Gastautor Patrick Henkelmann
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