Am Samstag war Köln vom Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan bestimmt – vor allem vom Protest gegen diesen im Vorfeld heftig umstrittenen Besuch. Erdoğan trat in der Lanxess Arena vor seiner AnhängerInnenschaft auf, de facto wie bei einer Wahlkampfveranstaltung. Seine KritikerInnen sammelten sich bei einer Großdemonstration der Alevitischen Gemeinde Deutschlands und zogen friedlich durch das Stadtgebiet auf der anderen Seite des Rheins. Welche Hintergründe hat es, dass Zehntausende in einer deutschen Großstadt gegen Erdoğan auf die Straße gehen?
Proteste und Widerstand sind für Erdoğan wahrlich nichts Neues mehr. Vor bald einem Jahr eskalierte in Istanbul durch das gewaltsame Vorgehen der Polizei der Konflikt um ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks neben dem Taksim-Platz. Daraufhin demonstrierten bis in den September hinein in mehreren türkischen Großstädten insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen gegen die autoritäre Politik der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) von Ministerpräsident Erdoğan. Über 5.000 wurden verhaftet, es gab über 8.000 Verletzte, und acht Menschen starben. Die alevitische Minderheit in der Türkei spielte bei den Protesten von 2013 eine bedeutende Rolle.
In den vergangenen Wochen kam es in der Türkei erneut zu Unruhen. Anlass war das schwere Grubenunglück, das sich am 13. Mai in einem Braunkohlebergwerk in der westtürkischen Stadt Soma ereignet hatte. Dabei starben mehr als 300 Bergleute – die meisten von ihnen mutmaßlich wegen gravierender Sicherheitsmängel; Mängel wie dem Fehlen von Fluchtwegen, Schutzräumen und Luftschächten, die schon in einem 2010 verfassten Bericht festgestellt worden waren. Ein im Oktober 2013 von den drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien unterstützter Antrag, frühere Arbeitsunfälle in Soma durch eine Parlamentskommission untersuchen zu lassen, war von der mit absoluter Mehrheit regierenden AKP erst im letzten Monat endgültig abgeschmettert worden.
Frei von Sensibilität
Recep Tayyip Erdoğan erklärte bei einer Pressekonferenz in Soma am Tag nach dem Unglück, es handele sich um einen „Betriebsunfall“, wie er im Bergbau halt immer wieder passiere. Das Bergwerk sei auf dem neuesten Stand der Technik gewesen und regelmäßig kontrolliert worden. Im Anschluss musste Erdoğan vor aufgebrachten DemonstrantInnen, die seine Wagenkolonne angriffen, unter dem Schutz der Polizei in einen Supermarkt flüchten. Von Erdoğans – inzwischen entlassenem – Berater Yusuf Yerkel kursieren von jenem Tag Bilder, die ihn zeigen, wie er einen am Boden liegenden Demonstranten tritt, während dieser von zwei Polizisten festgehalten wird. Für viele KritikerInnen Erdoğans und der AKP-Regierung, ihrer Korruptionsskandale sowie ihrer islamisch-konservativen und neoliberalen Politik haben die Ereignisse von Soma das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. Bei Zusammenstößen zwischen Polizei und DemonstrantInnen starben Ende letzter Woche noch zwei Menschen, einer davon an den Folgen eines Kopfschusses durch eine Polizeikugel.
Dass Erdoğan trotz der Ereignisse in Soma nach Deutschland gereist war, hat ihn zwar noch mehr Sympathien gekostet, ist jedoch Teil seiner weiteren Karriere-Planung: Am 10. August wird in der Türkei nämlich das Staatsoberhaupt gewählt, erstmals direkt vom Volk. Der 60-jährige Erdoğan, der seit 2003 Ministerpräsident der Türkei ist, kann seinen Posten nach drei Amtszeiten 2015 nicht erneut bekleiden. Es wird jedoch als sicher betrachtet, dass Erdoğan deshalb anstrebt, im August als Kandidat der AKP Staatspräsident zu werden, wenngleich er dies offiziell noch nicht bestätigt hat. Erdoğan gilt als Favorit für die Wahl. Die Wahlberechtigten unter den mehr als 1,5 Millionen in Deutschland lebenden türkischen StaatsbürgerInnen werden von ihm offenbar als wichtige WählerInnenklientel betrachtet.
Die Lage(r) in Köln
Am Samstag sprach Erdoğan vor bis zu 20.000 AnhängerInnen in der Lanxess Arena dementsprechend vor allem von der bevorstehenden Präsidentenwahl, welche „einen Wendepunkt“ für das Erstarken der Türkei darstellen werde. Offizieller Anlass seines Besuchs war der zehnte Gründungstag der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD), einer AKP-Lobbyorganisation, welche bereits frühere Auftritte Erdoğans in Deutschland organisiert hatte. Der Ministerpräsident wies in Köln jegliche Kritik an seinem Handeln zurück. Die DemonstrantInnen müssten bekämpft werden, Einschränkungen von Freiheitsrechten gebe es nicht, Opposition und Medien hätten das Unglück von Soma „ausgeschlachtet“ und seine GegnerInnen würden stets „dieselben Lügen und Verleumdungen“ äußern. Bei seinem Publikum kam dieser Stil gut an.
Auf der anderen Rheinseite fanden sich an jenem Tag um die 40.000 GegnerInnen Erdoğans bei einer Großdemonstration ein, die am Ebertplatz ihren Beginn nahm und dann durch die Innenstadt zog. Angemeldet wurde die Veranstaltung von der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF), welche den Dachverband der alevitischen Gemeinden hierzulande darstellt. Doch auch wenn die meisten TeilnehmerInnen der Demonstration AlevitInnen waren, handelte es sich offenkundig um ein sehr breit aufgestelltes Bündnis unterschiedlicher Gruppen. Neben den alevitischen Gemeinden waren vor allem kurdische Organisationen und verschiedene linke türkische Gruppierungen präsent. Ferner auch nicht-türkische Linke, türkisch-patriotische KemalistInnen sowie christliche ArmenierInnen und AramäerInnen/AssyrerInnen.
Eine emotionale und wichtige Demo
Einige Demonstrierende trugen geschwärzte Gesichter und Schutzhelme, als Zeichen ihrer Solidarität mit den verunglückten Bergleuten in Soma. Vor allem wegen der Toten von Soma und der Toten durch die Polizeigewalt in diesem und im letzten Jahr war die Atmosphäre am Samstag teils sehr emotional. Viele der GegnerInnen Erdoğans bezeichneten diesen auf Schildern oder in lautstarken Ausrufen als „Mörder“, „Diktator“ oder „Faschist“. Trotz harter Worte und emotionaler Aufgewühltheit blieb die Stimmung jedoch friedlich. Etwas befremdlich wirkten auf manche BetrachterInnen sicher die vielen Fahnen mit einer an Hammer-und-Sichel der UdSSR angelehnten Ästhetik, welche von türkischen kommunistischen Organisationen gezeigt wurden. Und höchst ungewöhnlich war es, Fahnen mit dem Bild des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan neben solchen mit dem Bild von Mustafa Kemal Atatürk zu sehen. Sind doch die Autonomie-Bestrebungen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans und die nationale Ausrichtung des Kemalismus einander diametral entgegengesetzt.
Der Demo-Aufruf der Alevitischen Gemeinde kritisierte Erdoğan auch dafür, dass dieser eine „Kultur der Parallelgesellschaft“ in Deutschland fördere. Seine Werkzeuge hierfür seien unter anderem das 2010 gegründete „Amt für Auslandstürken“ sowie die türkische Religionsbehörde DİTİB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion). Zudem schüre Erdoğan bei den TürkInnen in Deutschland Assimilationsängste, während er selbst die Assimilation „aller Andersdenkenden“ verfolge. Die türkische Parallelgesellschaft gelte es zu überwinden.
Der Protest am Samstag sollte „ein klares Zeichen für ein friedliches Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Gruppen in Deutschland und der Türkei setzen“. Solch ein wichtiges Zeichen zu setzen, um das gesellschaftliche Nebeneinander ein Stück weit mehr in ein Miteinander zu verwandeln, ist den VeranstalterInnen durchaus gelungen.
:Gastautor Patrick Henkelmann
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