„Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder; schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird ein Teil der Zeremonie.“ (Franz Kafka)
So berühmt wie typisch ist dieser Aphorismus, an dem sich Kafka-Exegeten seit Jahrzehnten abarbeiten: Für manche sind die geheimnisvollen Worte nicht zu dechiffrieren, andere glauben ad hoc des Rätsels Lösung zu kennen. Ob autobiographisch, philosophisch, psychoanalytisch oder zionistisch – den einen oder anderen Interpretationsansatz für Kafkas Werk hat selbst der geneigte Laie parat. Und dann mal gucken, wie es passt. Ähnlich versucht es die Hauptfigur in „Kafkas Leoparden“, einem Kurzroman des brasilianischen Autors Moacyr Scliar. Nur ist der junge bessarabische Jude Benjamin nicht als Liebhaber deutsch-jüdischer Literatur ins Prag des Jahres 1916 gereist, sondern als Revolutionär. Verborgen hinter den kryptischen Zeilen von „Leoparden im Tempel“ vermutet der tollpatschige Trotzkist eine kommunistische Geheimbotschaft – was ihn in kafkaeske Verwirrung führt.