Am 17. Oktober wäre Georg Büchner – Dramatiker, Schriftsteller, Mediziner, Revolutionär und einer der wohl bedeutendsten Avantgardisten in der neuen deutschen Literaturwissenschaft – 200 Jahre alt geworden. Zur Feier des Tages wurden sein Werk und Wirken erneut geehrt: Unter anderem im Kunstmuseum Bochum, in dem letzten Freitag eine Inszenierung der Erzählung „Lenz“ stattfand, die durch musikalische, literarische sowie historische Beiträge zu einem intermedialen Mosaik vollendet wurde.
Lediglich 23 junge Jahre wurde er alt. Und doch schaffte Büchner es innerhalb seines kurzen Lebens die deutsche Literatur grundlegend zu beeinflussen. Manch einer ist davon überzeugt, dass es ihm sogar gelang, die Auslegung von Kunst zu revidieren: „Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen, es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hineinzukopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegen schwillt und pocht“, konstatiert Lenz, der Protagonist in Büchners gleichnamiger Novelle. Lenz’ Verständnis von Kunst geht mit der Überzeugung seines Schöpfers einher, denn auch letzterer sah die Aufgabe der Kunst darin, die Natur so wirklich wie nur möglich abzubilden. Büchner schlug vor fast zwei Jahrhunderten eine 180°-Wendung ein, indem er sich von dem Streben nach Idealismus loslöste: Wichtig sei in der Kunst nicht das Schöne, sondern das Wahre.
Büchner orientierte sich bei seiner Erzählung an Briefen des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz sowie an den Berichten über dessen Geisteszustand, aus der Feder des Pfarrers Johann Friedrich Oberlin. Büchner literarisierte die wahre Begebenheit, den sich verschlechternden Zustand Lenz’, der letztlich im inneren Tod mündete. Lenz wird vom „Wahnsinn auf Rossen“ gejagt, seine Lage ist aussichtslos – nicht einmal der Pfarrer Oberlin kann ihn retten.
Innere Leere? Zum Greifen nahe.
Die Volkshochschule Bochum entschied sich zusammen mit der Literarischen Gesellschaft Bochum dazu, anlässlich des 200. Geburtstags Büchners dessen einziges Prosawerk darzubieten: Die Erzählung „Lenz“. Obwohl die Bühne des Kunstmuseums lediglich von drei KünstlerInnen in Anspruch genommen wurde, bekamen die ZuschauerInnen den vollkommenen Wahnsinn Lenz’ zu spüren. Monika Buschey, Autorin und freie Journalistin aus Bochum, hatte die Idee, der literarischen Lesung sowohl durch musikalische Begleitung, als auch durch den Vortrag historischer Quellen den letzten Schliff zu geben.
Der Wuppertaler Schauspieler Bernd Kuschmann sorgte mit seiner dunklen, tiefen Erzählerstimme und seiner dezenten, aber nichts desto trotz fesselnden Mimik und Gestik für Nervenkitzel und Gänsehaut: Immer wieder trat er so nah an das Publikum heran, dass man das erregte Zittern seiner Oberlippe erkennen konnte. Untermalt wurde die düstere Stimmung der Erzählung von dem Soloflötisten der Duisburger Philharmoniker: Stephan Dreizehnter. Er zog die ZuschauerInnen mit anfänglich sachten sowie sanften Tönen in den Bann; diese entfalteten sich jedoch alsbald zu lauten, eindringlichen Klängen. Die Klangfarbe passte sich dem Spannungsbogen der Erzählung an und spiegelte den Bewusstseinszustand Lenz’ wider – aus einem ruhigen Wind wuchs ein unruhiger Sturm. Die Schauspielerin und Regisseurin Babara Wollrath-Kramer rundete die Inszenierung vollends ab: Mittels eingefügter, von ihr nüchtern rezitierten Quellen über Büchners Biographie gewann die Darstellung darüber hinaus den Eindruck von Authentizität. Explizit handelte es sich bei diesen Quellen um Ausschnitte aus Büchners medizinischer Vorlesung „Über die Schädelnerven“, Briefe an und von Büchner aus dem Exil, einem Steckbrief sowie um Aufzeichnungen über Büchners letzte Tage und seine Bestattung.
Dass zwischen der fiktiven Figur Lenz und dem Schriftsteller Georg Büchner nicht nur in Bezug auf deren Kunstverständnis Parallelen bestehen, darauf deutete auch die Inszenierung im Kunstmuseum hin. Das Gefühl der inneren Leere, das Gefühl des inneren „Gestorbenseins“ war auch Büchner allzu bekannt – im Straßburger Exil gestand der Autor in einem der Briefe an seine Braut, dass seine Phantasie das Beste sei. So endete die Darbietung im Kunstmuseum einerseits mit Büchners physischem und andererseits mit Lenz’ psychischem Tod, der, nebenbei erwähnt, ausgerechnet in Straßburg entritt. „[…] [E]s war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“
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