Mit der Nordstadtoper lieferte das Theater Dortmund den Versuch einer Emulsion sehr unterschiedlicher Formen von Kultur, Geschichten, die sonst selten in denselben Räumen stattfinden. Das Ergebnis war ein Event, was im Gedächtnis bleibt.
Wer am vergangenen Samstagabend durch die Dortmunder Nordstadt spaziert ist und dem Geräusch lauter elektronischer Musik in Richtung Hafen folgend, durfte etwas Erstaunliches bewundern. Im Zuge des Kulturfestivals Beyond Opera 22 zog eine „performative Soundkarawane“ vom Blückerpark in Richtung Kanal. Finaler Stopp am „Umschlagplatz“ – Der Name dieses Events? Nordstadtoper. Wer sich ein wenig in Dortmund auskennt, wird bei der Kombination von „Nordstadt“ und „Oper“ vielleicht staunen. Der stark migrantisch geprägte Stadtbezirk Innenstadt-Nord – in den Medien oft als „Ghetto“ und voll mit vermeintlichen No-Go-Areas geframed – steht nicht unbedingt mit solch anerkannter Hochkultur wie der Oper in Verbindung. Aufmerksamkeit bekommt man dort meist nur in Form von Taser-Pilotprojekten bei der Polizei und gutbürgerlicher Angst vor allem was anders ist. Doch seit einigen Jahren befindet sich der Stadtteil in einer konfliktreichen Entwicklung zwischen selbstverwalteten Projekten und Gentrifizierung. Eins ist jedoch immer noch klar, nördlich des Hauptbahnhofs ist es anders als im Rest der Stadt. Dieses „anders“ gehört zu dem, was die Nordstadtoper in ihrer Konzeption einfangen will. Um 19 Uhr sollte es losgehen, schon vorher sammelten sich viele Menschen im Blücherpark. Dort konnte man bereits tänzerische Bewegung auf einem Spielplatz zu meditativen Parolen von Sicherheit, Geborgenheit und Liebe betrachten. Jemand steht an einer Telefonzelle, singt Oper in den Hörer. Bereits auf dem Weg zum Park fallen die gesperrten Straßen und fragende Anwohner:innen auf. Irgendwas liegt in der Luft, so viel ist klar. Eine Hochzeitsgesellschaft wird – wahrscheinlich unfreiwillig – kurz Teil der Inszenierung, als sie feierlich hupend versuchte, noch zwischen Soundkarawane und Straßenabsperrungen hindurch zu schlüpfen. Dann aus nicht allzu weiter Ferne die Klänge von Bass und Kickdrums, während ein LKW mit einer Bühne vorfährt. Dieses Fahrzeug bildete das Herzstück der Karawane, die nun mit einigen Schlenkern durch die Straßen der Nordstadt lief. Immer wieder kamen zu den repetitiven Beats andere Impulse hinzu: Am Eingang einer Schule spielte ein Jazzensemble, vor einer Bar erklungen Streichinstrumente, Balletttanz im Hof einer Kirche, ein Gitarrist auf einem Balkon, Schlagzeuger in einem Treppenhaus … Mal mehr Zeit, mal weniger Zeit, um innezuhalten und die neue Kombination aus elektronischem und akustischem Klang auf sich wirken zu lassen. Eine große Masse Menschen hatte sich dem Zug angeschlossen, zwischen den Schaulustigen spontanen und extra Angereisten immer wieder eine kostümierte Person und dann eine zweite und eine dritte, die sich durch die Menge schlängelt. Oft fällt erst im allerletzten Moment auf, dass gerad eine weitere Performance beginnt. Immer wieder auch der Klang von Operngesang, der die fast profanen Klänge der Tanzmusik durchdringt. Klänge, die man auch an jedem anderen Wochenende auf den Straßen der Nordstadt vernimmt, vermischt mit Klängen, die sonst nur in exklusiven Veranstaltungen in Opern- und Konzerthäusern zu hören sind. Angekommen am Ziel erwartete die Karawane eine Bühne, darauf all die Musiker:innen die uns bereits unterwegs an ihren Stationen erwartet hatten. Noch ein letztes Mal spielten alle zusammen, als vorläufiger Klimax der Veranstaltung. Doch auch nach dem dankenden Abschlussgruß der Organisator:innen war es noch nicht vorbei mit der Nordstadtoper. Für alle, die noch nicht genug hatten, gab es noch Musik bis zur Mitte der Nacht – rollende Bässe und rhythmische Bewegungen, Impulse und Ekstase, die die Straßen und das Nachtleben der Städte prägen, während anderswo in den heiligen Stätten der Hochkultur mit Weißweinglas in der Hand applaudiert wird. Die Nordstadtoper das Bindeglied, ein zaghaftes, gegenseitiges Ausstrecken der Finger entgegen einer Kultur, die man vielleicht nicht versteht, wohl aber respektieren kann.
:Jan-Krischan Spohr
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