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…im doppelten Sinne, denn der von Robert Louis Stevenson verfasste Schauerroman aus dem Jahr 1886 dürfte vielen noch aus vergangenen Schultagen bekannt sein. Das sollte Euch allerdings nicht abschrecken, schließlich ist Alter nur eine Zahl, nicht wahr? Spaß beiseite. Lasst Euch von Stevenson ins spätviktorianische London des 19. Jahrhunderts entführen, wo nichts so ist wie es im ersten Augenblick scheint.

„The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ zählt wohl zu den Klassikern unter den Werken der Gothic-Literatur und wurde bereits durch verschiedene Medien adaptiert. Sowohl die deutsche als auch die englische Originalausgabe – zwischen 60 und 100 Seiten – sind für mich an einem Tag gelesen und überzeugen mit ihrer sprachlichen Ausdruckskraft. Während ich  lese, vergesse ich sogar, wie alt diese Geschichte eigentlich ist.
 Die Novelle des schottischen Schriftstellers erzählt fragmentarisch von der Geschichte eines brutalen Verbrechens und dessen Aufklärung. Was zunächst als aufregendes Experiment den Optimismus nur so übersprudeln ließ, verwandelt sich hier schon bald in einen grausamen Alptraum und pure Verzweiflung. Jedes Mal aufs Neue stellt sich die Frage nach Identität und Moral. Nahezu unbemerkt bringt uns Stevenson von den nebligen Straßen Sohos fort und führt uns immer tiefer in die menschliche Psyche. Er lässt uns einen Blick in ihre dunklen Abgründe erhaschen und wirft die Frage nach der Natur des Menschen auf.

Die Handlung setzt an einem Sonntag ein, an dem der Rechtsanwalt Mr. Utterson und der „stadtbekannte Lebemann“ Mr. Richard Enfield zu ihrem üblichen Spaziergang aufbrechen. Während man von Mr. Enfield kaum was erfährt, erscheint uns auch Mr. Utterson trotz ausführlicher Beschreibung nicht ganz greifbar. Etwas zwielichtiges haftet an ihm. So erfahren wir, dass er auf seine Mitmenschen einen kühlen und reservierten Eindruck macht, doch „in der äußersten Not eher dazu neigte, zu helfen, als zu verurteilen.“ Das brachte ihn ebenfalls dazu, immer wieder „die letzte seriöse Bekanntschaft und der letzte gute Einfluss im Leben von Männern zu sein, mit denen es bergab ging.“

Der Spaziergang der zwei Bekannten führt sie in die Nebenstraße eines belebten Viertels Londons. Ordentliche Häuserfassaden und das reghafte Treiben eines blühenden Geschäftslebens begleiten sie auf ihrem Weg. Da sticht ihnen ein deplatzierter Häuserblock ins Auge, der fast schon bedrohlich zwischen seinen hellen Nachbarn emporragt. Es „hatte keine Fenster, nur eine Tür im Erdgeschoss und darüber eine blinde Fassade von verblichenem Mauerwerk, und zeigte alle Anzeichen dauerhafter und schmutziger Vernachlässigung. Von der Tür, die weder über Glocke noch Klopfer verfügte, blätterte der verblasste Lack ab.“ Als der Begleiter des Rechtsanwalts die Tür erblickt, erinnert er sich an ein seltsames Erlebnis, das sich vor nicht allzu langer Zeit ereignet hat:

Eines Nachts, auf seinem Heimweg „von einem Ort am anderen Ender Welt“ wurde Mr. Enfield Zeuge eines grausamen Verbrechens. Ein Mann, in seiner Physiognomie mehr Kreatur als Mensch, trampelte ein kleines Mädchen zu Boden. Doch nicht nur die Tat erfüllte Mr. Enfield mit Abscheu, sondern auch dieser kleine Herr löste in ihm ein übermäßiges Gefühl von Abneigung aus, dass sich auf natürlichem Wege nicht erklären ließ. Die Familie des Mädchens, welche ebenfalls das Geschehen beobachtet hatte, forderte nun Gerechtigkeit für ihr verletztes Kind. Er sollte dafür bezahlen – mit finanziellen Mitteln. Die verlangte Summe war für einen durchschnittlichen Bürger unvorstellbar hoch. Zur Verwunderung der Beteiligten stimmte der Mann, der sich schon bald als Mr. Hyde herausstellt, zu, zu bezahlen. Das brachte Mr. Enfield zu jener Tür, vor der er und Mr. Utterson nun standen. Der Mann holte einen Scheck aus dem Inneren des Gebäudes, den der Name eines bekannten und beliebten Doktors zierte. Es war mit der Unterschrift von Dr. Henry Jekyll unterzeichnet – einem Mann, der sich nicht deutlicher von der kleinen Gestalt hätte unterscheiden können, die gerade das wertvolle Blatt Papier in den Händen hielt.

An dieser Stelle endet zwar die Geschichte Mr. Enfields, doch sie lässt Mr. Utterson einfach nicht los. Dr. Jekyll ist ein alter Freund des Rechtsanwalts und hatte ihm zuvor ein kurioses Testament übergeben, dass im Fall seines Todes oder seines plötzlichen Verschwindens jenen Mr. Hyde als Erben seines Hab und Guts auszeichnete. Mr. Utterson beschließt, dem auf den Grund zu gehen. Doch schon bald erschüttert der brutale Mord eines Abgeordneten die Stadt und der Name des vermeintlichen Täters jagt dem Rechtsanwalt einen kalten Schauder über den Rücken. Auch Dr. Jekylls verhalten wird auf unerklärliche Weise immer seltsamer. Als sich die Lage zuspitzt, finden sich der Rechtsanwalt und Mr. Enfield erneut auf einem Spaziergang wieder. Sie erblicken den Doktor an seinem Fenster, das Gesicht vor innerlichen Qualen verzerrt und mit wehleidiger Stimme. Was sie kurz darauf beobachten, lässt die Männer schweigend und erschüttert umkehren.
 Im weiteren Verlauf begleiten wir Mr. Utterson bei seinen Untersuchungen und es kommen immer unheimlichere Details raus, die später sogar das Leben eines Freundes kosten.
 In seinem letzten Brief schreibt der verzweifelte Dr. Jekyll am Rande des Wahnsinns: „Mein Teufel war lange Zeit eingesperrt gewesen; brüllend kam er aus seinem Käfig.“ Erst am Ende erfahren wir, was es mit diesen sonderlichen Worten auf sich hat – ein dunkles Geheimnis kommt ans Licht.

:Alina Nougmanov

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