Gastbeitrag. „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ war eine beliebte Kampfparole der Studentenbewegung. An der Ruhr-Universität Bochum sollte alles anders sein, alles neu. Aber es müffelte auch hier. Urs Jaeggi (und seine Assistenten) wirkten da wie ein frischer Wind.
Mit seiner Berufung kurz nach Eröffnung auf den Lehrstuhl für Soziologie (er blieb von 1966 bis 1970) gab es ein Gegengewicht zu den vielen anderen konservativen bis reaktionären Professoren in der Sozialwissenschaftlichen Abteilung. Um uns über den Berufenen schlau zu machen, studierten wir seine Schrift „Der Vietnamkrieg und die Presse“, für die er in der heimatlichen Schweiz herbe Kritik von Kollegen und Politikern einstecken musste: weil es sich für einen Universitätsprofessor nicht gezieme, politisch Stellung zu nehmen. Genau das fanden wir nicht. In seinen Vorlesungen, Seminaren und vor allem in der gemeinsamen Arbeit in den Gremien der Universität erlebten wir Jaeggi als glaubwürdigen Lehrer, Freund und Vermittler. Er selbst hat es in seinem autobiografischen Roman ‚Brandeis‘ so beschrieben: „Er hatte sich nie vorgestellt, Professor zu werden, und er konnte sich später mit der Aufgabe, nicht aber mit der Position identifizieren. Seine Kollegen, und nicht nur sie, sahen diese Distanz. Er wurde als Andersgearteter aufgespürt, diskriminiert. Seine Aussagen im Seminar und in den Vorlesungen waren Lebensäusserungen, sie dienten zwar der Stoffvermittlung, der Wissensaneignung, aber er verhehlte nie, wie sehr dies alles wichtig war für ihn selbst, für seine eigene Orientierung.“ Es waren diese „Lebensäusserungen“, die ein anderes Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden schufen. Prof. Jaeggi war nicht die vom Senat berufene Autorität, sondern einfach ein kluger und nahbarer Mensch, gerade mal 10 bis 15 Jahre älter als wir, der uns Wissen und Haltung vermittelte. Kein Wunder, dass die Hörsäle bei seinen Vorlesungen überfüllt waren – Studierende aus allen Fachrichtungen hatten plötzlich Lust, sich mit Soziologie zu befassen. Es war wohl auch sein damals noch untypischer Werdegang, den Jaeggi ‚anders‘ machte: Banklehre und abends hart erarbeitete Hochschulreife. Damit passte er gut zur RUB, an der – verglichen mit etablierten Unis – dreimal so viele Arbeiterkinder studierten und besonders viele, die über den zweiten Bildungsweg Abitur gemacht hatten.
Jaeggis wohl wichtigste wissenschaftliche Veröffentlichung fiel in unsere und seine Bochumer Zeit. Sein 1969 erschienenes Buch „Macht und Herrschaft in der BRD“ war ein Augenöffner für viele, mit einer Gesamtauflage von 400.000 Exemplaren offenbar weit über die RUB hinaus.
Für uns im AStA war er auch eine ganz praktische Hilfe – er unterstützte uns bei der Entwicklung und Durchsetzung der neuen Abteilungssatzungen und der Universitätsverfassung. Und er war es, der nach der Ermordung Benno Ohnesorgs im Juni 1967 und dem Attentat auf Rudi Dutschke Ostern 1968 mit dafür gesorgt hat, dass es eine breite universitäre Aktion des Gedenkens, des Protests und der Aufarbeitung dieser Taten gab. Urs Jaeggi hat die junge RUB und das Leben vieler seiner Studenten und Leser entscheidend mitgeprägt.
:Roland Ermrich und :Hendrik Bussiek
Mitglieder des Gründungs-AStA
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