Kommentar. Aktuell befindet sich die Gewerkschaft ver.di in Tarifverhandlungen mit den DienstherrInnen des Öffentlichen Dienstes. Warnstreiks waren vor der am vergangenen Sonntag angelaufenen Verhandlungsrunde an der Tagesordnung. Das passte nicht allen.
„Scheiß Streik“, hallt es über die menschenleeren Bahnsteige der Bogestra. „Die machen frei und ich komme nicht zur Arbeit!“
So oder ähnlich fallen oftmals Reaktionen auf den Arbeitskampf der Verkehrsbetriebe aus. Auch wenn es sich bei den hier genannten Ausrufen um Fantasieprodukte handelt, sind die Stimmen gegen einen Streik, vor allem im Öffentlichen Dienst oder bei den Verkehrsbetrieben oftmals laut und vor allem eins: egoistisch. Gewiss ist es ein Ärgernis, wenn man auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen ist, dieser aber für 24 Stunden seinen Dienst einstellt. Sicher bedeutet es Mehrarbeit, wenn die Kinder vor der Arbeit in die Schule gefahren werden müssen (wenn diese nicht auch bestreikt wird). Doch wen trifft die Schuld an der Arbeitsniederlegung? Den Streikenden die Unannehmlichkeiten zur Last zu legen, ist jedoch viel zu kurz gedacht. Wenn man schon über Streiks schimpfen will, dann bitte bei denjenigen, die sie zu verantworten haben. Und die Verantwortlichen für unzureichende Arbeitsbedingungen stehen nicht auf der ArbeitnehmerInnenseite des Tarifvertrags, sondern sind in den Vorstandsetagen zu finden.
Welch ein Glück
Die Deutschen können sich ob der hiesigen Streikkultur noch regelrecht glücklich schätzen. Hierzulande fallen jährlich im Schnitt sieben Personentage pro eintausend Beschäftigte streikbedingt aus. Bei unseren französischen NachbarInnen beläuft sich die Zahl auf 117 Personentage. Während die deutschen Gewerkschaften oft nur für bis zu 24 Stunden die Arbeit niederlegen, kommt es vor, dass in Frankreich mit der Sprengung ganzer Fabriken gedroht wird, sollten Forderungen der ArbeitnehmerInnen nicht erfüllt werden.
Während ver.di und Co. bei fetziger Sambamusik und mehr oder minder kämpferischen Reden höchstens durch An- und Abreise für polizeiliche Herausforderungen sorgt, fliegen in Frankreich, Italien und Griechenland Steine und Brandsätze auf Firmensitze. Solch ein Vorgehen muss man nicht gutheißen, doch es beweist, wie wenig ärgerlich ein typischer deutscher Streik ist. Was man jedoch gutheißen muss, ist die Solidarität, die Streikende in anderen Ländern genießen. Kaum einE ItalienerIn klagt über fehlende Busverbindungen, während BusfahrerInnen das komplette Zentrum Roms lahm legen, keinE GriechIn bemängelt ausbleibende Milchlieferungen, sondern geht mit den streikenden Bäuerinnen und Bauern gemeinsam auf die Straße.
Bilder, die in Deutschland undenkbar sind. In diesem Land mangelt es an Einfühlungsvermögen und Solidarität. Der Egoismus nimmt Überhand, das müssen Streikende seit Jahrzehnten erfahren.
Und dabei vergessen diejenigen, die am lautesten schimpfen scheinbar eins: Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes garantiert das Streikrecht für alle Beschäftigten, die sich einer Gewerkschaft angeschlossen haben. Die Forderung nach einer Beendigung von Arbeitskämpfen ist daher schlichtweg verfassungswidrig. GegnerInnen des Streikrechts sollten sich dieser Tatsache bewusst werden, bevor sie das nächste Mal gegen die Streikposten vor dem Betrieb wettern.
:Justinian L. Mantoan
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