Kommentar. Der weiße Schleier über Kassel lüftet sich. Circa 1.000 besorgte Notrufe registrierte die städtische Feuerwehr seit Anfang April. Der Auslöser: Daniel Knorrs Beitrag Expiration Movement. Die Reaktion: Besorgniserregend und bezeichnend.
Aus dem Zwehrenturm des Fridericianums in Kassel stieg mit Beginn der documenta 14 in Athen weißer Rauch auf. Durch das Kunstwerk könne man an Papstwahlen, aber auch Bücherverbrennungen, Rauchzeichen als Kommunikationsmittel oder Vernichtungslager erinnert werden, wird der Künstler Daniel Knorr von der „Hessischen Niedersächsischen Allgemeinen“ (HNA) zitiert. Bis zum 17. September stiegen jeden Tag ab 10 Uhr weiße Wolken gen Himmel und lösten bei manchem Menschen die Alarmglocken aus. Zwar ist von Brand ausgelöster Rauch nicht weiß; die besorgten KasselerInnen gingen aber nur ihrer BürgerInnenpflicht nach. Doch diese Reaktion treibt einige der schmerzhaftesten Fragen der Kunstwelt an die Oberfläche: Was ist eigentlich Kunst? Wer entscheidet das und warum? Und wieso ist zeitgenössische und moderne Kunst oftmals so verpönt?
Make art great again!
Man kann sich folgende Situation bildhaft vorstellen: Reisegruppe „Wir sind auf Durchfahrt“ macht Halt am städtischen Museum für Moderne Kunst. Im Angesicht eines Jackson Pollock pfeift ein gelangweilter Besucher „Pff, das könnt’ ich auch“ und bringt die empörte Kunstvermittlerin in die Verlegenheit, die Kunst vor ihm rechtfertigen zu müssen. Scheißsituation – und wer ist schuld?
Die US-Künstlerin Louise Lawler versieht in ihrer Arbeit Sappho and Patriarch eine Fotografie zweier Skulpturen mit der Notiz: „Is it the Work, the Location or the Stereotype that is the Institution?“ Die Antwort: Ja. Alle. Die Museen, die FörderInnen, die Kunst und KünstlerInnen selbst und letztlich alle Kunstinteressierten und auch sonst alle, die mit ihrem Verhalten das Überleben der Kunst von Geld abhängig gemacht haben. Wir alle.
Man kann auch keine Liebe kaufen
Das fundamentale Problem liegt in der Unvereinbarkeit von Kunst und Kommerz. Das Naturell der Kunst entspringt nicht einem wirtschaftlichen Interesse. Aber wie schon Thomas Bernhard schrieb: ab einem bestimmten Punkt „verkam jede Kunst zur Staatskunst“. Zur Auftragskunst. Von Mäzenen, wohlhabenden Fürsten oder Banken finanziert, denn sie konnten es sich leisten. Auch heute besteht ein großer Teil der Arbeit als KünstlerIn darin, Förderung zu finden, denn: Alles muss ja irgendwie mit Geld beginnen. Die Absurdität geht so weit, dass von einem Kunst-Markt die Rede ist, als wäre das selbstverständlich. Und dass bei Sotheby’s Versteigerungen ein Basquiat für 110,5 Millionen Dollar verkauft wird und zack: Basquiat wird 2018 im Londoner Barbican-Centre eine Ausstellung gewidmet, die anschließend in die Frankfurter Schirn-Kunsthalle weiterzieht.
Wie finanzierte eigentlich Daniel Knorr seinen Rauch für die documenta? Ach richtig: Er produzierte 1.100 Künstlerbücher, die er für 80 Euro verkaufte. Zwischen den weißen Seiten befinden sich platt gepresster Müll und Schrott, den er von den Straßen Athens gesammelt hat. Kunstinteressierte schwärmen: Tolle Aktion, macht auf den Umgang mit Müll aufmerksam, very kosmopolitisch, such selbstfinanziert, wow. Die Realität sagt: 80 Euro für Müll – hast du Lack gesoffen?
Und wie lautet nun die Antwort auf die einleitende Frage: Ist das Kunst oder kann das weg? Vielleicht einigen wir uns zum derzeitigen Stand auf: Ist alles Kunst, kann alles weg.
:Marcus Boxler
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