Frankreich reagiert auf die terroristischen Angriffe von Paris mit der Ausweitung seines Luftkrieges gegen den Islamischen Staat (IS). Um jenes unheilbringende Pseudo-Kalifat zu besiegen, braucht es jedoch mehr als militärische Symbolpolitik. Es bedarf insbesondere einer kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Türkei – und die Bereitschaft zum Bruch mit Erdoğans Regime.
Der IS kontrolliert momentan einen etwa 100 km langen Abschnitt der syrisch-türkischen Grenze. Den Großteil ihrer Gebiete im kurdischen Norden Syriens hat die islamistische Terrororganisation in diesem Jahr allerdings verloren. Die Truppen Rojavas – der syrisch-kurdischen Selbstverwaltung – konnten den IS nach Westen bis hinter den Euphrat zurückwerfen. Als KämpferInnen der YPG/YPJ jenen Fluss im Oktober überqueren wollten, um gegen den IS zu kämpfen, wurden sie von der türkischen Luftwaffe angegriffen. Die türkische Regierung erklärte, ein Überschreiten des Euphrat und eine Ausweitung Rojavas dorthin nicht zu tolerieren.
Nachschub für den IS
Für Recep Tayyip Erdoğan und die AKP-Regierung geht es in Syrien in erster Linie darum, das Entstehen eines zusammenhängenden kurdischen Autonomiegebietes zu verhindern. In zweiter Linie wird der Sturz des Assad-Regimes angestrebt. Der IS gilt der türkischen Regierung im Vergleich zu beidem als weit geringeres Übel. Vergangenes Jahr geriet die Türkei in die Kritik, weil sie den IS zumindest auf passive Weise unterstützt hat: durch eine offene Grenze für tausende islamistische Kämpfer und für das Öl, das der IS aus Syrien schmuggelt.
Im Juli 2015 erklärte die Türkei, sich am internationalen Kampf gegen den IS zu beteiligen. Seitdem bombardiert die türkische Luftwaffe in geringer Intensität den Islamischen Staat – und in stärkerem Maße die YPG/YPJ in Syrien sowie die PKK in der Türkei, in Syrien und im Nordirak. Noch immer läuft über die Türkei die wichtigste Nachschubroute für den IS. Nach dem Terror in Paris drängen die USA die türkische Regierung nun anscheinend mit Erfolg dazu, die Grenze für Nachschub und Öl-Handel des IS zu schließen.
Embargo beenden!
Ob dies aber tatsächlich geschieht, sollte besser gründlich beobachtet werden. Die Grenze zu Rojava hat die Türkei dagegen längst geschlossen – auch für humanitäre Hilfe. Dieses Embargo ist eine schwere Belastung für die Menschen in jenem Gebiet und behindert massiv den Wiederaufbau. Neben der Isolation des IS sollte unbedingt auch das Ende des Embargos gegen die syrisch-kurdische Selbstverwaltung im Fokus stehen. Zumal dadurch zehntausende aus oder nach Rojava Geflüchtete dort eine Perspektive finden würden.
Und natürlich müssen die türkischen Angriffe auf kurdische Ziele in Syrien und im Irak sofort aufhören! Wenn die westlichen Staaten sich schon nicht genötigt sehen, angesichts des innenpolitischen Handelns von Erdoğan größtmöglichen diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auszuüben, so sollten sie es wenigstens in Bezug auf die türkische Außenpolitik tun. Das wäre jedenfalls weit wichtiger, als mehr Luftangriffe gegen den IS zu fliegen.
:Gastautor Patrick Henkelmann
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