Die freie Theaterszene gibt sich beim Impulse Theater Festival unter dem Motto „Gesellschaftsspiele“ im Mülheimer Ringlokschuppen erfrischend politisch und spielt mit neuen (oder alten) Darstellungsformen.
Da liegt es darnieder: Umgekippte Stühle, Tische; das Sofa steht quer – wenn Chaos ins heimische Wohnzimmer einkehrt, dann ist auch die Zivilisation im Arsch. Mit dem (klein-)bürgerlichen Interieur als ideologische Keimzelle des Spätkapitalismus wählt das Künstlerkollektiv Gob Squad für ihre Aufführung „Western Society“ die beste aller möglichen Perspektiven auf die Gesellschaft: auf der Leinwand startet die Zivilisationsuhr, rasch geht es ins 20. Jahrhundert; das Mobiliar wird zurecht gerückt, die anfangs noch nackten DarstellerInnen kleiden sich an – bürgerliche Gesellschaftsgeschichte im Schnelldurchlauf, als daher gemachtes Wohnzimmer. 2015: Das Bühnengeschehen ist auf der Leinwand (oder auf Smartphone verdoppelt. Das ist der Fortschritt – und wenn die PerformerInnen in goldenen Partyfummeln erstrahlen, die Musik lauter wird, der Boden vibriert, dann wuppt die Party, dann kann es verkündet werden: „Wir haben es geschafft: herzlich Willkommen zur Western Society.“
Und dann? Nichts! Die PerformerInnen verkünden, auf der Bühne das am wenigsten angeklickte Youtube-Video, eine Familien-Karaoke-Feier, nachstellen zu wollen. ZuschauerInnen werden dann auf die Bühne gelockt. Über Kopfhörer erhalten sie Anweisungen. Es werden Karaoke-Songs geträllert und Kuchen gegessen. Und immer wieder diese eine Frage gestellt: „What are we doing here?“ Ja, was hält die Gesellschaft zusammen? Antworten gibt es nur ideologisch als Katechismus: „Björn oder Beyonce? Good or bad? Wie glücklich fühlst Du dich auf einer Skala von 1 bis 10? Drohnen oder Chemiewaffen?“
Dschihad, Lügen und Video
Die Bühne, das Bild ist schon längst arrangiert, trotzdem weiß keiner, wofür es steht: „Eine Party, auf der sich keiner kennt oder die Utopie einer Familie, wo sich alle bestens kennen?“ Das dargestellte Gesellschaftsbild hat sich selbst überlebt, genauso wie dessen Glücksversprechungen . Man mag zuweilen fragen: auch die Form des Reenactments, mit der Gob Squad es darstellen?
Geprägt wurde das Format des Reenantment von Milo Rau. Der Schweizer Regisseur, der in dieser Form etwa mit „Hate Radio“ den Genozid in Ruanda thematisierte, war auch mit seiner Arbeit „The Civil Wars“ zu Gast in Mülheim. Im Mittelpunkt steht darin die Frage, was junge Menschen dazu bewegt, als IS-Krieger nach Syrien zu ziehen. Vier SchauspielerInnen reflektieren in einem Wohnzimmer darüber, sie sprechen in die Kamera, über die eigene Jugend, von ihren Eltern – Antworten finden sie nicht.
Darauf verzichtet auch das Künstlerkollektiv andcompany&Co. „Wir erklären Ihnen jetzt den Krieg“, heißt es am Anfang. Aufgegriffen werden in ihrer neo-dadaistischen Musik-Performance über Kriegs(erkärungen) Brecht, Mann oder Lenin. So richtig ernst nehmen sie es nicht: Krieg, (Anti-)kapitalismus, Pazifismus, Utopien – alles Versatzstücke einer postmodernen Party. Andcompany dreht zum Ende schon mal die Musik auf. Die freie Theaterszene gibt sich politisch, gesellschaftskritisch, sucht nach Alternativen. Und feiert sich selbst.
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