Ein Hauch von 1989: Am 21. Juni hatte das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) weitere Beisetzungen von „unbekannten Einwanderern“ in Berlin geplant. Auf dem Vorplatz des Kanzleramts sollten „tote Opfer der militärischen Abriegelung Europas“ auf einem Gräberfeld ihre letzte Ruhe erhalten, das als Mahnmal „den unbekannten Einwanderern Europas“ gewidmet werden sollte.
Laut Stefan Pelzer, „Eskalationsbeauftragter“ des ZPS, geht es „um den sofortigen Europäischen Mauerfall! Diese Flüchtlinge sind die letzte Chance für Europa.“ Die universellen Menschenrechte seien sofort und ohne Bedingungen oder Kompromisse anzuwenden. Sowohl die Beisetzung als auch die Errichtung des Mahnmals wurde durch Auflagen der Berliner Polizeibehörde verboten. Trotzdem trafen sich nach Polizeiangaben über 5.000 Menschen in Berlin zum „Marsch der Entschlossenen“.
Zunächst bewegte sich der Trauerzug im Gedenken an die insgesamt circa 23.000 Toten der EU-Abschottungspolitik seit dem Jahr 2000 von der Straße Unter den Linden in Richtung Regierungsviertel. Die Stimmung war friedlich. Vereinzelte Sprechchöre („Say it loud, say it clear, refugees are welcome here“) mischten sich mit Trauerliedern („Dona nobis pacem“) und Gesprächen der TeilnehmerInnen über ihre eigene Motivation, hierbei mitzumachen und welche Hoffnungen sie mit einer Änderung der EU-Flüchtlingspolitik verbinden.
Kurz vor dem Kanzleramt musste auf Anweisung der Polizei halt gemacht werden. Ein meterhohes Baustellenschild versperrte die Straße. Das ZPS hatte es aufgestellt. „Hier baut die EU: Friedhofsanlage Toumani Samake. Den unbekannten Einwanderern“, war darauf zu lesen. Zwei leere Särge standen darunter. Nach einigen Minuten des Schweigens und Verharrens – ein Sarg wurde hinter das Schild getragen, eine Trompete spielte traurig auf – bedankten sich die KünstlerInnen des ZPS und erklärten die Veranstaltung für beendet.
Kein Zaun ist legal
Ohne Ankündigung wurde aus der Mitte der Teilnehmenden heraus spontan ein Zaun, der den Platz der Republik abriegelte, behutsam waagerecht gelegt. Sogleich spazierten tausende der Trauernden auf den Platz. Allerdings überwanden sie nicht, wie zunächst wohl von der Polizei befürchtet, den letzten Zaun vor dem Reichstagsgebäude, sondern begannen symbolische Gräber im Gedenken an die „unbekannten Einwanderer“ anzulegen. Die Stimmung war nach wie vor friedlich und von einem fröhlichen Ernst getragen. Alle Beteiligten, unter ihnen viele Kinder, errichteten mit kleinen Schippen, bloßen Händen und Skateboards gemeinsam mehr als 100 Gräber und versahen sie mit ihren individuellen Wünschen und Hoffnungen für die Zukunft in einer Welt ohne Grenzen.
Die Gräber verselbständigen sich
Die Polizei vermittelte zunächst den Eindruck, dass das Geschehen geduldet würde. TeilnehmerInnen zogen Vergleiche zur friedlichen Revolution in der DDR und äußerten die Vermutung, dass das durch engagierte BürgerInnen angelegte Mahnmal zumindest zeitweise bestehen könnte. Doch schon bald begannen die zwischenzeitlich aufgestockten Polizeikräfte, den Platz der Republik zu räumen. Dabei gingen sie wenig zimperlich vor und verwandelten den friedlichen Protest und die humanistische Tat der politischen Schönheit in den typischen Schutt einer deutschen Demoauflösung zurück. Sie zertrampelten die liebevoll angelegten „Gräber“ und nahmen über 90 MenschenfreundInnen wegen Landfriedensbruch und Sachbeschädigung fest. Derweil entstehen in ganz Europa täglich neue dezentrale Mahnmale für die „unknown refugees“.
:Gastautor Kolja Schmidt
ist Mitglied der Juso-Hochschulgruppe und ehemaliger :bsz-Redakteur
„Die Toten kommen“ auch nach Bochum
Im Zuge der europaweiten Protestaktion „Die Toten kommen“, die ihre größte Manifestation in Berlin erlebte, wurden auch in Bochum Gräber für die „unbekannten Flüchtenden“ errichtet. In der Nacht zum Sonntag entstanden so unter anderem im Westpark, im Park Präsident und am Nordring (siehe Foto) diese Guerilla-Mahnmale. :tims/mar
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