Das kapitalistische Wirtschaftssystem führt zur Entfremdung des Menschen – allerdings geschieht dies heutzutage teilweise in einer anderen Form als früher. Zu Lebzeiten von Karl Marx herrschte die offene Ausbeutung der Arbeitenden vor, die dadurch an den Rand des Existenzminimums gebracht wurden. In unserer spätkapitalistischen Gesellschaft gibt es dagegen zwar mehr Absicherung, doch droht den Menschen durch das ständige Sich-selbst-Verkaufen dafür eine noch stärkere Entfremdung. Ohne die Analyse der Entfremdung, ihrer Formen und ihrer Auswirkungen lassen sich die immer offenkundiger werdenden gesellschaftlichen Probleme nur eingeschränkt verstehen. Eine diesbezüglich hervorragende, kritische Betrachtung unserer Gesellschaft findet sich in den Werken von Erich Fromm (1900 bis 1980). Der deutsch-jüdisch-amerikanische Soziologe, Psychoanalytiker und Philosoph Fromm machte die Aufklärung über die Entfremdung der modernen westlichen Gesellschaft zum Kern seines Lebenswerks.
Fromms Verständnis der Entfremdung baut auf dem von Karl Marx auf. Schon Marx erkannte die Problematik der Entfremdung in der industrialisierten, kapitalistischen Gesellschaft. Er führte sie jedoch monokausal auf die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zurück und forderte daher deren radikale Umgestaltung. Marx’ Analyse der Entfremdung hat die :bsz in den Ausgaben 964 bis 966 behandelt. Erich Fromm verfolgt dagegen einen breit gefächerten Ansatz. Fromm erkennt und thematisiert alle Aspekte der Entfremdung, die auch Marx diagnostiziert hat. Allerdings nimmt die Entfremdung der Arbeit bei Fromm nicht den zentralen Stellenwert ein wie bei Marx. Die ökonomischen Faktoren werden von Fromm überhaupt weniger stark gewichtet, da für ihn auch die kulturellen und religiösen Faktoren eine bedeutende Rolle spielen. Fromm hat verschiedene Ansätze und Konzepte entwickelt, um die Entfremdung des Menschen in all ihren Ausprägungen aufzuzeigen.
Der Gesellschaftscharakter…
Einer der wichtigen Grundbegriffe von Fromm ist dabei der „Gesellschaftscharakter“ oder „Sozialcharakter“ („social character“). Dieser stellt das Persönlichkeitsbild des Durchschnittsmenschen in einer Gesellschaft oder einem sozialen Milieu dar, den „Kern der Charakterstruktur, den die meisten Mitglieder ein und derselben Kultur miteinander gemeinsam haben, im Unterschied zum individuellen Charakter, in welchem sich Menschen ein und derselben Kultur voneinander unterscheiden“. Der Gesellschaftscharakter formt die Energien der Gesellschaftsmitglieder dergestalt, dass sie automatisch und aus eigenem Antrieb so handeln, wie die gesellschaftlichen Strukturen es erfordern. Gleichzeitig sorgt der Gesellschaftscharakter dafür, dass es die Gesellschaftsmitglieder befriedigt, sich den Erfordernissen ihrer Gesellschaft angepasst zu verhalten. Der Gesellschaftscharakter sichert damit das Funktionieren der Gesellschaft. An seiner Beschaffenheit lässt sich – aus Sicht eines normativen Humanismus – der Grad der Entfremdung innerhalb einer Gesellschaft ablesen.
Der vorherrschende Gesellschaftscharakter hängt von der Struktur der jeweiligen Gesellschaft ab und wandelt sich langsam, wenn diese Struktur sich durch technologische, ökonomische, kulturelle, religiöse oder politische Faktoren verändert. Im Kapitalismus des neunzehnten Jahrhunderts wurde der Markt von allen bisherigen Beschränkungen entfesselt. Der Konkurrenzkampf, der Wettbewerb aller gegen alle und das Profitstreben wurden zu Leitprinzipien der Gesellschaft. Bei denjenigen, welche die sich dadurch bietenden neuen Gelegenheiten zu nutzen wussten, kam als Wesensmerkmal das Ansammeln von Besitz und Ersparnissen hinzu – nach Fromm eine „hortende Orientierung“. Der hortende (Gesellschafts-)Charakter weist für Fromm sowohl positive als auch negative Eigenschaften auf. Seine positiven Eigenschaften sind unter anderem Sparsamkeit, Sorgfalt, Verlässlichkeit, Gelassenheit, Ordentlichkeit und Loyalität. Zu seinen negativen Eigenschaften zählen Geiz, Argwohn, Phantasielosigkeit, Gefühlskälte, Ängstlichkeit, Eigensinn, Trägheit, Pedanterie, Zwanghaftigkeit und Habgier. Je entfremdeter der hortende Charakter ist, desto stärker überwiegen bei ihm die negativen Aspekte.
…und sein Wandel
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam jedoch, bedingt durch die fortschreitende und dynamische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften, neben dem hortenden Charakter zunehmend der „Marketing-Charakter“ auf. Fromm verwendet die Bezeichnung „Marketing-Charakter“, da der diesem entsprechende Mensch sich selbst als Ware auf dem „Persönlichkeitsmarkt“ erlebt, und sein Selbstwertgefühl auf seinem dortigen ‚Tauschwert‘ beruht, sowie auf seiner sozio-ökonomischen Rolle, auf Status und Einkommen.
Der hortende Charakter wurde in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhundert dann vom Merkmal der Mittel- und Oberschicht zum wichtigsten Merkmal der unteren Mittelschicht degradiert – als veraltetes Merkmal einer veralteten Klasse, da die Gesellschaft und ihre Erfordernisse sich gewandelt hatten. Und wenn die Struktur der Gesellschaft sich in einer zum bisherigen Gesellschaftscharakter inkompatiblen Weise verändert, wird dieser Gesellschaftscharakter von einem stabilisierenden zu einem destabilisierenden Element. Der Antifaschist Erich Fromm erklärt so auch die überproportionale Hinwendung der unteren Mittelschichten zu faschistischen Bewegungen im Europa der 1920er bis 1940er Jahre.
In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Marketing-Charakter die hortende Orientierung als vorherrschenden Gesellschaftscharakter in der westlichen Welt dann eindeutig und endgültig abgelöst. Die USA waren Europa bei dieser gesellschaftlichen Entwicklung schon in den 1930er Jahren längst um Jahrzehnte ‚voraus‘ – wie der nach Hitlers Machtergreifung in die USA emigrierte Fromm vor Ort feststellen konnte. In der nächsten Ausgabe der :bsz wird der Marketing-Charakter näher betrachtet, welcher unsere heutige Welt noch weit stärker prägt, als er dies zu Fromms Lebzeiten getan hat.
Patrick Henkelmann
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