Lautstarke Emotionen, surreale Bühnenelemente und unausweichliche Denkanstöße: Im Grillo-Theater in Essen wird momentan „Der Prozess“ von Franz Kafka aufgeführt. In Szene gesetzt wurde der Roman vom freischaffenden Regisseur Moritz Peters.
„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet“: „Der Prozess“ von Franz Kafka ist der Roman, der aufgrund seiner Deutungsvielfalt selbst einen Prozess durchlebt hat: einen Prozess der Interpretation. Die kanonische Auseinandersetzung mit Schuld & Gericht kann sowohl politisch und soziologisch als auch psychoanalytisch gedeutet werden. Der Roman wurde aber auch historisch-kritisch, biographisch sowie religiös interpretiert. „So bewirkte also die Methode des Advokaten, welcher K. glücklicherweise nicht lange ausgesetzt war, dass der Klient schließlich die ganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Ende des Prozesses sich fortzuschleppen hoffte. Das war kein Klient mehr, das war der Hund des Advokaten.“ Handelt es sich bei dem umstrittenen Werk um eine Kritik an der ‚autonomen’ misanthropischen Bürokratie, welche die Freiheit des Bürgers und der Bürgerin missachtet und untergräbt? Oder geht es in erster Linie darum, den inneren Prozess eines Menschen darzustellen? Geht es darum, zu entfalten, wie Josef K., der Protagonist des Romans, nach und nach davon überzeugt wird, dass er schuldig sei? Dass ihm seine angebliche Schuld, nach und nach, bewusst wird beziehungsweise bewusst gemacht wird?
Neben der Möglichkeit, den Roman in einen interpretatorischen Rahmen zu zwingen, besteht natürlich auch die Möglichkeit, ihn textimmanent zu betrachten: „Die Schrift ist unveränderlich, und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“
Die Inszenierung bleibt dem Romanhaften treu
Narrative und dramatische Texte unterscheiden sich im klassischen Sinne insofern, dass in der einen Textform die Handlung eher erzählt oder berichtet wird – dagegen wird sie in der anderen Textform „gezeigt“. Der narrative Text wird über eine Erzählinstanz vermittelt, im dramatischen Text fehlt hingegen jene Instanz. Wie also inszeniert man einen Roman auf der Bühne? Um den inneren Prozess von Josef K. für den Leser und die Leserin greifbar zu machen, wird die Handlung im Roman immer wieder aus der Perspektive des Protagonisten geschildert. Da sich die Erzählperspektive auf das Innere fokussiert, kann sich der oder die Lesende nicht auf das „Vorgeführte“ verlassen.
Zauber des Phantastischen
Moritz Peters entschied sich nicht dazu, die Erzählerinstanz wegzulassen. In seiner Prozess-Inszenierung wird die Handlung des Öfteren lediglich gesprochen anstatt gezeigt. Ganze Passagen aus dem Roman wurden übernommen – jede Figur verwandelt sich hin und wieder in die Erzählerinstanz, um kurzfristig über das fortlaufende Geschehen zu berichten oder die Gedanken und Wahrnehmungen von Josef K. zu übermitteln. Es ist augenfällig, dass in der Inszenierung besonders viel Wert auf die psychoanalytische Komponente des Stoffes gelegt wurde. Auch die kittelweißen Kostüme und die traumartigen Elemente des Bühnenbilds – monströse Luftballons, Konfettiraketen und Krawatten tragende Riesen aus Luft – suggerieren dem Zuschauer und der Zuschauerin, dass eine surreale Bürokratie, eine verzerrte Wirklichkeit dargestellt wird.
Dass die SchauspielerInnen mehrere Figuren gleichzeitig spielen und immer wieder die Rollen wechseln, unterstreicht den phantastischen Charakter zudem. Demnach scheint es so, als würde die Inszenierung des Grillo-Theaters die ZuschauerInnen vorherrschend in eine bestimmte Interpretationsrichtung lenken.
Es sind noch Restkarten für Samstag, den 2. November, sowie für Donnerstag, den 21. November, erhältlich. Wer es laut und abgedreht mag, sollte sich schnell um eine der letzten Karten bemühen. Empfehlenswert ist jedoch die vorherige Auseinandersetzung mit Kafka und seiner Literatur.
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