Die entfremdete Arbeit im kapitalistischen Wirtschaftssystem bewirkt nach Karl Marx zwangsläufig auch die Entfremdung des Menschen von seinen Mitmenschen – was schließlich zu einer insgesamt entfremdeten und inhumanen Gesellschaft führt. Ausdruck dieser Entfremdung ist für Marx das Verhältnis, in dem der Mensch zu den anderen Menschen steht. In der entfremdeten Arbeit stehen die Arbeitenden unter der Herrschaft der KapitalistInnen (siehe Teil I in :bsz 964). Das Produkt dieser Arbeit gehört nicht den Arbeitenden selbst, sondern den KapitalistInnen – sie sind der „Herr“ des Produktes, das den Arbeitenden als eine sie wirtschaftlich knechtende Macht gegenübersteht. Die entfremdete Arbeit bewirkt daher nicht nur das Verhältnis der Arbeitenden zum Akt und Produkt ihrer Produktion, sondern auch das Verhältnis, in welchem die KapitalistInnen zu diesen sowie zu den Arbeitenden stehen. Marx betrachtet diese Verhältnisse als das Wesen des „Privateigentums“, welches eine notwendige Folge der entfremdeten Arbeit ist.
Der missverständliche Begriff „Privateigentum“ bezeichnet bei Marx wohlgemerkt nicht pauschal das Eigentum von Menschen, sondern Kapital, welches sich Arbeit(ende) mietet. Das Privateigentum ist der materielle Ausdruck der entfremdeten Arbeit. Es geht „innerhalb des Privateigentums“, also im Kapitalismus, nicht um die optimale Erfüllung der wirklichen menschlichen Bedürfnisse. Stattdessen, so Marx in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“, spekuliert im Kapitalismus jeder „darauf, dem andern ein neues Bedürfnis zu schaffen, um ihn zu einem neuen Opfer zu zwingen, um ihn in eine neue Abhängigkeit zu versetzen und ihn zu einer neuen Weise des Genusses und damit des ökonomischen Ruins zu verleiten. […] (jedes Produkt ist ein Köder, womit man das Wesen des andern, sein Geld, an sich locken will, jedes wirkliche oder mögliche Bedürfnis ist eine Schwachheit, die die Fliege an die Leimstange heranführen wird […])“.
Die Bedürfnisse des Menschen
Der Mensch muss das für sein Leben Notwendige im Kapitalismus als Waren auf dem Markt kaufen. Darüber hinaus, so analysiert Marx, werden dem Menschen jedoch immer neue Bedürfnisse geschaffen, werden ihm Dinge, die er gar nicht braucht – nicht-funktionales Eigentum und ablenkende Vergnügungen – von anderen als erstrebenswert oder notwendig suggeriert. Die Arbeitenden müssen ihre Arbeit als Ware auf dem Markt anbieten, um das Geld für ihre Versorgung und die Erfüllung eines möglichst großen Teils der ständig zunehmenden weiteren Bedürfnisse zu verdienen. Die KapitalistInnen mieten die Arbeitenden, um deren Erzeugnisse als Waren mit größtmöglichem Profit verkaufen zu können. Die Menge der Waren auf dem Markt nimmt stetig zu, ist doch jede Ware eine Möglichkeit, Profit zu machen, falls es gelingt, bei den Menschen ein Bedürfnis für sie zu schaffen. Marx: „Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird um so ärmer als Mensch, er bedarf um so mehr des Geldes, um sich des feindlichen Wesens zu bemächtigen, und die Macht seines Geldes fällt grade im umgekehrten Verhältnis als die Masse der Produktion, d.h., seine Bedürftigkeit wächst, wie die Macht des Geldes zunimmt.“
Abgesehen davon, dass selbst die Befriedigung aller immer neuen Bedürfnisse dem Menschen keine Erfüllung bringen würde, hat er im Regelfall gar nicht die finanziellen Möglichkeiten, auch nur die meisten von ihnen zu befriedigen. Das Streben, möglichst viele seiner Bedürfnisse zu befriedigen, führt den Menschen zum Streben, möglichst viel Geld zu verdienen. Seine Mitmenschen (und bei den Arbeitenden auch sie selbst) werden dem Menschen zum Mittel des Geldverdienens. Der Mensch verliert im Kapitalismus seine Menschlichkeit. Er erkennt seine wahren Bedürfnisse nicht mehr, seine Sinne und seine Wahrnehmung sind verzerrt. Statt sich am Leben wirklich zu erfreuen, orientiert er sich auf das Konsumieren, das Besitzen, das Haben: „Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, dass ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, also als Kapital für uns existiert oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unsrem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz, gebraucht wird. […] An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist daher die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der Sinn des Habens getreten.“
Das Haben wird zum Selbstzweck. Der Mensch strebt nach der Anhäufung von nicht-funktionalem Eigentum, also von Dingen, die er gar nicht benötigt, und nach dem Erleben von ablenkenden Vergnügungen. Er hat keinen Sinn mehr für die Unterscheidung von Gegenständen, die er zu einem seiner Natur entsprechenden Leben benötigt und solchen, die er nicht benötigt. Alle Gegenstände werden in seiner Wahrnehmung nur zu potentiellem Eigentum (von ihm oder anderen Menschen). Der im Haben gefangene Mensch kann sich an den Dingen und der Natur nicht mehr wirklich erfreuen. Auch bei seinen Freizeitaktivitäten empfindet er keine wirkliche Freude mehr, er konsumiert und zerstreut sich bloß. Selbst der Erwerb von Wissen geschieht bei dem solcherart entfremdeten Menschen nicht aus echtem Interesse oder zur tatsächlichen Bildung, sondern dient ihm zur Verbesserung seiner Einkommensmöglichkeiten und zur Erhöhung seines sozialen Status. Marx folgert über diese Auswirkungen des Kapitalismus: „Alle Leidenschaften und alle Tätigkeit muss also untergehn in der Habsucht.“
Gegen die Entfremdung
Zu den verbreitetsten Missverständnissen von Marx gehört die Auffassung, dass es ihm lediglich um die wirtschaftliche Besserstellung der Arbeitenden ginge. Jedoch würde diese nicht zur Aufhebung der Entfremdung führen, was Marx' eigentliches Ziel ist. So würde die entfremdete Arbeit auch dann entfremdet bleiben, wenn den Arbeitenden ein größerer Anteil am Produkt ihrer Arbeit oder das ganze Produkt gehören würde. Die weiterhin entfremdete Arbeit würde nach wie vor ihre entfremdenden Auswirkungen haben, so dass die Entfremdung des Menschen nicht aufgehoben wäre.
Auch revolutionäre Ansätze zur Überwindung des Kapitalismus können Marx' Ziel, die Entfremdung zu überwinden, deutlich verfehlen. Dies gilt insbesondere, wenn die Entfremdung als Kernproblem nicht in ausreichendem Maße erkannt wird und das Privateigentum aufgehoben werden soll, ohne die Entfremdung der Arbeit zu beseitigen. Schon Marx hat seinerzeit solche irrigen Denkansätze scharf kritisiert und sie abwertend als „rohen Kommunismus" bezeichnet. Der rohe Kommunismus hebt das Privateigentum zwar in seiner materiellen Manifestation als Kapital auf, verallgemeinert und vollendet in Wirklichkeit jedoch die Herrschaft des Privateigentums in seinem nicht-materiellen Charakter. Der rohe Kommunismus ist allein auf materielles Eigentum und dessen egalitäre Verteilung ausgerichtet: „Der physische, unmittelbare Besitz gilt ihm als einziger Zweck des Lebens und Daseins; die Bestimmung des Arbeiters wird nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt."
Gegen den Bolschewismus
Die Herrschaft des materiellen Eigentums ist im rohen Kommunismus so ausgeprägt, dass dieser sich gegen alles richtet, was nicht von allen als Eigentum besessen werden kann. Die Folgen sind die Unterdrückung von Talent, Fähigkeiten und Charakter des Menschen. Die Habgier konstituiert sich hier als Neid und Gleichmachungswahn – in solcher Stärke, dass eine Gleichheit in Armut und Elend einer Ungleichheit in Zivilisation und Wohlstand vorgezogen wird. Der Mensch wäre im rohen Kommunismus dann „nicht über das Privateigentum hinaus[gelangt], sondern [materiell] noch nicht einmal bei demselben angelangt“. Die Gesellschaft des rohen Kommunismus ist ein allgemeiner Kapitalist. Individualität und Freiheit werden dort in verstärktem Maße beeinträchtigt; der Verlust zivilisatorischer und technischer Errungenschaften ist naheliegend. Marx wertet folglich: „[…] der rohe Kommunismus, ist also nur eine Erscheinungsform von der Niedertracht des Privateigentums, das sich als das positive Gemeinwesen setzen will“.
Der Bolschewismus wurde im 20. Jahrhundert zu einer historischen Verwirklichung des rohen Kommunismus. Er erschöpfte sich dementsprechend in Konformismus und (profanem) Materialismus sowie in egalitärer Nivellierung. Unter Berufung auf Karl Marx wurde ein ‚roter‘ Totalitarismus geschaffen, vor dem Marx schon 1844 in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ gewarnt hat – die allerdings leider erst 1932 veröffentlicht wurden und bei früherer Rezeption womöglich viel Unheil hätten verhüten können.
Marx lesen
Wer sich tiefergehend für das Denken von Karl Marx interessiert, dem sei als weiterführende Lektüre „Das Menschenbild bei Marx“ besonders empfohlen (auf deutsch erstmals 1963 erschienen und leider nur noch antiquarisch erhältlich), welches eine kompakte und bis heute vorbildliche Marx-Interpretation von Erich Fromm enthält, sowie Auszüge aus zwei Frühschriften von Marx, aus den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844“ und der „Deutschen Ideologie“. Die alleinige Lektüre von Marx’ Schriften ohne erklärende Sekundärliteratur würde allerdings die meisten heutigen Interessierten an ihre Grenzen bringen. Nicht zuletzt hat die bedauerlicherweise durch Marx’ anspruchsvolle wie eigenwillige Sprache bedingte Rezeptionsbarriere im 20. Jahrhundert mit zur Verbreitung grundlegend falscher Annahmen über Marx’ Menschen- und Weltbild beigetragen. Mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Bolschewismus in Europa und angesichts der strukturellen Krise des heutigen westlichen Kapitalismus bietet es sich jedenfalls an, sich den Denker Karl Marx und sein Werk zu erschließen und andere darüber aufzuklären, damit Missbrauch und falsche Vorurteile endlich einem würdigen Umgang weichen.
Patrick Henkelmann
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