Der Mensch, was ist das für ein Wesen? Warum ist er auf der Welt? Was ist sein Platz im Universum? Warum handelt er so, wie er es tut? Fragen, an denen wohl seit der Mensch denken kann viele Zähne ausgebissen wurden. Viele dicke kluge Bücher von weisen Graubärten wurden darüber verfasst – und brachten kaum zufriedenstellende Antworten. Sollte etwa ein dünnes Büchlein eines jungen Mannes die Antworten liefern?
Was ist der Mensch? Der Titel dieses Buches jedenfalls schätzt ihn als Wesen nicht besonders hoch ein: „Das Mensch als solches: Ein Versuch?!?“ macht den Menschen zum Neutrum, zum Tier; der „Versuch“ deklariert ihn als etwas Unfertiges, als etwas, das vielleicht etwas hätte werden können. Lediglich die Fragezeichen am Ende entkräften diese misanthropischen Züge des Titels. Wie praktisch, wenn der Autor im Vorwort selbst die Analyse des Buchtitels vornimmt, das spart dem Rezensenten Arbeit. Es zeigt aber auch, wie durchdacht das Konzept ist, das hinter dem Band steckt; zeigt, dass allein hinter den sechs Wörtern des Titels und den fünf des Untertitels („Sammlung anthropologischer Lyrik und Kurzprosa“) viel Mühe, Fingerspitzengefühl und Hintergedanke steckt. Und es gehört Mut dazu, die Kombination Fragezeichen – Ausrufezeichen – Fragezeichen in einen Buchtitel stecken.
„Jeder ist austauschbar“
Das Vorwort gibt auch eine Leseanweisung für das Buch. Dessen Prosatexte und Gedichte sollen mehr oder weniger unter dem Thema „Was ist der Mensch?“ stehen. Der Mensch als Akteur in der Gesellschaft: Hier ist er wichtig, denn die Menschen bilden die Gesellschaft. Sie ist mehr als die Summe ihrer Einzelteile und doch nehmen sich die Einzelteile selbst ungeheuer wichtig. Doch was ist der Mensch für Mutter Erde? Für das Universum? Da ist der Mensch austauschbar, da ist er nur einer von Milliarden und Abermilliarden Organismen. Und blickt man dann in den Firmenbetrieb, blickt man dann in die sexuellen Beziehungen, dann merkt man, dass sich der Mikrokosmos gar nicht so sehr vom Makrokosmos unterscheidet. Das muss auch der namenlose (und damit austauschbare!) Protagonist der Kurzgeschichte „Jeder ist austauschbar“ erfahren.
Ob nun aber Texte über Liebesbeziehungen, FaschistInnen und AntifaschistInnen und das dezidiert deutsche soziale Klima nun das Prädikat „anthropologisch“ verdienen, ist eine Frage, die sich nach den ersten paar Texten stellt. Ja und nein – manches mehr, manches weniger. Die Gefühlswelt des Menschen ist nun einmal eine der Teilwelten, die ihn umgeben. Der Mikrokosmos ist dem Makrokosmos gar nicht so unähnlich, wie wir festgestellt haben, und so lässt die Betrachtung einer (Anti-)Liebesszene durchaus Rückschlüsse auf das Miteinander im Gesamten zu. Auch Neonazis lassen sich als anthropologisches pars pro toto sehen: mal für die Macht der Ideologie, mal für den Reiz des Bösen. Die anderen Szenen aus dem Alltag sind eher, will man sich akademischer Disziplinen zur Kategorisierung bedienen, der Soziologie als der Anthropologie zuzuordnen.
„Assoziationen zum Erfindungsreichtum der Menschheit“
Der Autor Dennis Thiel studierte Germanistik an der Ruhr-Universität, war langjähriger Fachschaftsratssprecher und doziert heute an der Hochschule Bochum. Er ist 33, der älteste Text, „Andersrum – mursrednA“ ist auf 1995 datiert. Damals war Thiel 15. Es ist mutig einen Text aus so jungen Jahren in seine Sammlung aufzunehmen. Die Geschichte hat die Holprigkeit eines unerfahrenen Schreibers, fällt aber nicht unangenehm auf, fügt sich sogar gut in das Gesamtkonzept ein. Es gibt eben auch Perlen unter den Jugendsünden.
Dadurch, dass die Werke alle datiert sind, erhält der gesamte Band gleichzeitig autobiografische Züge. Es gehe auch darum, zu zeigen, was einen Menschen im Laufe seines Lebens beschäftigt, sagte der Autor in einem Gespräch. Und da gewisse Themen nicht an Aktualität einbüßen, sondern beispielsweise allgemeiner philosophischer Natur sind, fügen sich auch alte Texte aus der Jugend des Autors gut in den Sammelband ein.
Da wird experimentiert mit Themen und mit Formen, mit Worten, Sätzen und Morphemen. Die Texte glänzen nicht immer durch poetische Brillianz, aber sie bestechen durch scharfe und kluge Beobachtungen. Der Autor will dem Leser etwas vermitteln. Das merkt man mit jedem Wort in dem Buch. Deshalb erschien es auch bei einem Print-on-Demand-Verlag, bei welchem der Autor zwar eine Veröffentlichungsgarantie erhält, vermutlich aber bis zu einer gewissen Verkaufszahl selbst draufzahlt. Aber die Ideen wollten nun einmal raus. Und es ist gut und stets unterstützenswert, sie freizulassen.
Dennis Thiel: „Das Mensch als solches: Ein Versuch?!? Sammlung anthropologischer Lyrik
und Kurzprosa“
Books on Demand
72 Seiten, 6,90 Euro
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