Fortbewegung an 2 Stöcken
„Ich geh jetzt walken!“
Viel Zeit im Wartezimmer, lange Fahrten im Auto mit den Großeltern, ein im Vollrausch abgeschlossener Vertrag mit dem Lesezirkel – es sind Gelegenheiten wie diese, die einen unter Umständen dazu verleiten, einen Blick in eines der zahlreichen Organe des modernen Gesellschaftsterrorismus zu werfen: Frauen- und Männerzeitschriften.
Hat man sich einmal der Faszination dieser Lektüre hingegeben, kommt man nicht umhin, auf den dort immer wieder in den bizarrsten Formen propagierten Gesundheitswahn aufmerksam zu werden. In Männerzeitschriften leitet sich aus diesem Trend eine einfache Formel ab: Je fitter, desto mehr Sex mit möglichst wechselnden, ebenfalls fitten Partnerinnen, je mehr Sex, desto mehr Anerkennung von den männlichen Kollegen am (hoch bezahlten) Arbeitsplatz, je mehr männliche Anerkennung, desto besser.
Ähnlich zentral ist die Rolle von Gesundheit und Fitness in Frauenzeitschriften. Beinahe alle Themen kreisen bei genauerem Hinsehen um den Körper: die neueste Mode (nur tragbar von fitten Frauen), der sexuelle Erfolg (nur fitte Frauen können sich nackig machen, ohne dabei vor Scham gegenüber dem fitten Partner im Erdboden zu versinken) und die richtige Ernährung (um fit und erfolgreich zu bleiben). Der Schlüssel zur heilsbringenden Fitness ist – das liegt nahe – sportliche Ertüchtigung. Weil Sport aber nun mal nicht jederfraus Sache ist, hat sich das westliche Planungsbüro des modernen Gesellschaftsterrors eine Ersatzhandlung ausgedacht, die allgemein als Nordic Walking bekannt ist. Die Ausübung dieser Ersatzhandlung bietet auch völlig unsportlichen Menschen die Gelegenheit, sich als Teil einer fitten und damit auf der ganzen Linie erfolgreichen Gruppe zu fühlen. Gehen kann schließlich fast jeder, und unter dem Synonym „Nordic Walking“ klingt das Ganze gleich richtig sportlich. Nicht zuletzt verdanken wir diesem Trend Sätze wie „Ich gehe jetzt walken“. Aber bitte: professionelle Stöcke, einen atmungsaktiven Trainingsanzug und Spezialschuhe kaufen und einen Kurs belegen! Nordic Walking steckt voller Tücken, und unsachgemäßes Gehen könnte große Schäden anrichten! Wie die meisten gesellschaftsterroristischen Erfindungen hat auch das Walking so einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Nutzen, jedenfalls für alle Firmen, die klug genug sind, in irgendeiner Form auf den Fitness-Zug aufzuspringen.
Dass Nordic Walking noch nicht das Ende der Fahnenstange der Phantasiesportarten ist, bewies das renommierte gesellschaftsterroristische Propagandaorgan freundin schon vor einiger Zeit mit einem denkwürdigen Sammelsurium an Fitness-Tipps. Darunter befand sich auch der allerletzte Schrei für trendbewusste Fitness-Jüngerinnen: Das Masai-Walking. Die unschlagbaren Vorteile dieses Trainings werden von der freundin mit ebenso einfachen wie einleuchtenden Worten folgendermaßen erläutert: „Die Mitglieder des afrikanischen Masai-Stammes kennen weder Cellulite noch Rückenprobleme.“ Na, wenn das SO ist! Keine Cellulite, was für ein gesegnetes Volk! Der Grund für diesen unfairen Fitness-Vorteil der Masai ist übrigens laut freundin, dass sie immer barfuß laufen. Weil man das natürlich keiner frisch pedikürten Europäerin zumuten kann, empfiehlt die Zeitschrift ihren Leserinnen den Kauf eines speziellen Schuhs mit „Masai Barfuß Technologie“ (MBT), der das Barfußgehen für nur 200 Euro imitiert. Und das ist doch wirklich kein Preis für echtes Masai-Feeling.
In diesem Zusammenhang sollte man indes auch darauf hinweisen, dass die Einwohner der Sahelzone weder Fettleibigkeit noch Cholesterinprobleme kennen. Liebe freundin, es wird Zeit für die Sahel-Diät! Tausenden von unfitten Frauen könnte so geholfen werden, endlich den sexuellen und beruflichen Erfolg zu erlangen, den sie sich schon so lange wünschen! Beste Freundinnen könnten sich dann im hippen Büro dazu verabreden, gemeinsam das Barfußgehen zu imitieren, um anschließend bei einem kleinen Glas Dreckwasser und zehn Gramm Hirse konsequent an der Optimierung ihrer Fitness und des Frauseins an und für sich zu arbeiten. Gut Sport!
haje