Bei der Parlamentswahl in Großbritannien musste sich Herausforderer Ed Miliband von der Labour Party Premierminister David Cameron von den Conservatives klar geschlagen geben. Der amtierende Premierminister Cameron kann somit weitere fünf Jahre regieren – ohne den bisherigen Koalitionspartner der Liberal Democrats. Im großen :bsz-Interview fasst Dr. Sebastian Berg, Politikwissenschaftler und Dozent am Englischen Seminar, den Ausgang der Wahl noch einmal zusammen.
Dr. Sebastian Berg über Labours Wahlniederlage:
Das Hauptproblem der Labour Party ist, dass die meisten Menschen in Großbritannien nicht genau erkennen können, wofür diese Partei eigentlich steht. Sie unterscheidet sich nicht mehr groß von den Conservatives. Die Labour Party müsste sich um Leute kümmern, von denen einige bei dieser Wahl UKIP (United Kingdom Independence Party) gewählt haben. Aber nicht durch die Übernahme von UKIPs Positionen, sondern durch ein Programm, das sozusagen solidarische Alternativen zum Neoliberalismus bietet, statt rassistische oder ausgrenzende.
Berg über den Rechtsruck und Stimmengewinne der SNP:
Die Scottish National Party (SNP) ist keine rechte Partei, sondern eine sozialdemokratische. Das „Nationalist“ ist vielleicht etwas irreführend. Es hat den Rechtsruck gegeben, vor allem deswegen, weil die Conservatives viele Positionen von UKIP versucht haben, in gemäßigter Form zu übernehmen. Es wird ein Referendum zum Verbleib von UK in der EU geben und das kann durchaus bedeuten, dass, wenn UK mehrheitlich beschließt, aus der EU auszutreten, die Schotten einen Anlass sein für ein neues Referendum haben, das UK zu verlassen und zu versuchen, wieder Mitglied der EU zu werden.
Berg über den möglichen BREXIT:
Ich denke, es gebe sicherlich einige Vorteile in finanzieller Hinsicht. Ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die glauben, dass die Europäische Union wunderbar und jegliche britische Kritik an der EU völlig unberechtigt ist. Zum Beispiel wird der größte Topf der EU-Ausgaben, so weit ich weiß, immer noch für die Agrarindustrie, für die auch GB zahlt, benutzt. Und im Prinzip sind es französische und deutsche Betriebe, die am stärksten davon profitieren, also auf der Ebene, könnte es natürlich bestimmte Vorteile für GB geben, in wie weit es den Handel mit europäischen Ländern erschweren würde und welche ökonomischen Auswirkungen das hätte, weiß ich nicht genau, obwohl, wo ich eben sehr skeptisch bin, ist gegenüber der generellen Wendung zu einem rückwärtsgewandten, konservativen Nationalismus, der in Teilen GBs zu beobachten ist.
Berg über Camerons Arbeit als Premierminister:
Die Bilanz von dem, was die Regierung in den letzten fünf Jahren gemacht hat, ist katastrophal! Das Sozialsystem ist extrem ausgedünnt worden und es hat sozusagen eine ideologisch-nostalgische Wende zu einer vermeintlich in der Vergangenheit liegenden Version von britischer Größe gegeben.
Berg über quantitatives Wirtschaftswachstum:
Das Problem bei diesem Wirtschaftswachstum ist natürlich, wo genau es ankommt und was der Preis dafür ist. Und der Preis, den die Menschen in den letzten fünf Jahren dafür bezahlt haben, durch radikale Sparpolitik zur Sanierung der Pleite gegangenen Banken, war wirklich immens. Die Ausdünnung an öffentlicher Infrastruktur ist einfach frappierend. Und es ist eben die alte, neoliberale Ideologie, dass wir jetzt Wachstum kreieren und dann wird es irgendwann wieder bei den in Anführungsstrichen kleinen Leuten ankommen. Aber das wird in GB nicht besser funktionieren, als es irgendwo anders funktioniert hat.
Berg über die hohen Studiengebühren in GB:
Ich finde das völlig unangemessen, aber das ist natürlich nichts, das wir der konservativen Regierung alleine anlasten können, weil ursprünglich sind diese Studiengebühren von einer Labour-Regierung eingeführt worden – wenn auch nicht in dieser Höhe – aber auch Labour hat sie massiv erhöht.
Bergs Ausblick:
Man sieht aber jetzt schon erste katastrophale Anzeichen für das, was wir zu erwarten haben. Einer der Pläne dieses gerade neu zusammentretenden Kabinetts ist, die Europäische Menschenrechtskonvention für GB außer Kraft zu setzen, was zum Beispiel Abschiebung massiv erleichtern wird.
Berg über Unterschiede der großen Parteien:
Es gibt natürlich noch bestimmte Unterschiede zwischen den großen Parteien, also alleine dadurch dass es ein relativ enges Verhältnis zwischen der Labour Party und den Gewerkschaften gibt, also von daher würde ich sie nicht völlig über einen Kamm schweren. Aber es ist momentan ganz schwer auszumachen, in welche Richtung sich die Labour Party bewegen wird, ob sie sozusagen versuchen wird, den Conservatives noch ähnlicher zu werden als eine Konsequenz oder, was ich vorhin skizziert habe, sich zu überlegen, wie man eine solidarische Alternative zum Neoliberalismus entwickeln kann.
Berg über „Vote Swapping“ und das ‚ungerechte’ Wahlsystem:
Diese Praxis des „Tactical Voting“ gab es schon länger, auch vor dem Internetzeitalter. Es war da vielleicht aufwendiger zu organisieren. Klar kann man argumentieren, dass dieses Wahlsystem extrem ungerecht ist, aber, das ist jetzt das Interessante, hat es sich diesmal auch gegen die großen Parteien gerichtet, die normalerweise davon profitiert hatten. Jetzt in Schottland haben sie ganz massiv verloren aufgrund dieses Mehrheitswahlrechts. Zum ersten Mal richtet es sich gegen die großen Parteien, von daher erwarte ich auch, dass es eine neue Diskussion um dieses Wahlrecht in irgend einer Form geben wird. „Tactical Voting“ halte ich nicht für das große Problem, wenn Leute sozusagen versuchen, damit bestimmte Kandidaten durchzubringen oder bestimmte Konstellationen zu verhindern. Das ist ok. Das machen manche Leute in Deutschland bei einem anderen Wahlsystem auch. Das Wahlsystem hat auch seine Vorteile: Ich denke, was man den „Constituency Link“ nennt, die starke Abhängigkeit von ihrem Wahlkreis, hat auch Vorteile, weil die Leute sich wirklich ihrem Wahlkreis verbunden fühlen. Ich kenne ganz viele politische Interessierte oder aktive Menschen in GB, die, wenn sie irgend etwas für problematisch halten, sich an ihren MP wenden. Das ist, glaube ich, eine Idee, auf die wir in Deutschland so ohne weiteres nicht kämen. Den Vorteil sollte man nicht unterschätzen. Aber klar, das Ergebnis ist komisch, also UKIP hat fast drei Mal so viele Stimmen erhalten wie die SNP und diese hat jetzt 56 Abgeordnete und UKIP nur einen einzigen. Das zeigt die Absurdität dieses Verfahrens. Trotzdem kann man sich fragen, wenn man an die Geschichte der alten Bundesrepublik denkt, da hatten wir eine Partei (FDP, Anmerkung der Redaktion), die normalerweise zwischen sieben und neun Prozent der Sitze hatte und die langjährigste Regierungspartei überhaupt war. Auch das kann man als Absurdität betrachten.
Berg über generelle Politikverdrossenheit:
Ich habe nicht das Gefühl, auch wenn ich an meine Seminare denke, das Politik eine untergeordnete Rolle spielt. Ich glaube, dass das, was Sie gerade schon angesprochen haben, das für viele die Unterschiede zwischen den großen Parteien nicht mehr so grundsätzlich erkennbar sind. Dass das eigentlich eher diese niedrige Wahlbeteiligung erklärt und dass wir uns vielleicht weniger darüber unterhalten sollen, was Leute für Tischmanieren haben und welche Art und Wiese sie auf bestimmte Gerichte zu sich nehmen können (in Anspielung auf Camerons Hot Dog Essen), sondern wirklich wieder mehr der Frage nachgehen alle miteinander, was wir eigentlich brauchen und gemeinsam als Gesellschaft eine Zukunft zu haben.
Berg über die Green Party:
Und es gibt noch ein positives Ergebnis dieser Wahl, wenn ich das sagen darf: Die Green Party, die man nicht mit der deutschen grünen Partei vergleichen kann, es geschafft hat, ihren einen Sitz in Brighton Pavilion zu verteidigen und zu behalten.
bsz: Herr Berg, vielen Dank für das Gespräch.
:bsz-Info: Mehrheitswahlrecht und Vote Swapping in GB:
Das in Großbritannien vorherrschende Mehrheitswahlrecht „First-Past-the-Post“ beschert dem/der KandidatIn eines Wahlbezirks, der/die meisten Stimmen bekommt, einen der 650 Parlamentssitze. Dabei spielt der relative Stimmenanteil wie zum Beispiel in Deutschland keine Rolle. Das führte bei der aktuellen Unterhauswahl zu einer Absurdität: Zwar hat die rechtskonservative UKIP insgesamt knapp vier Millionen Stimmen bekommen, jedoch nur einen Sitz im Parlament, während die Liberal Democrats mit knapp 2,5 Millionen Stimmen auf insgesamt acht Parlamentssitze kommen. Um diese Ungerechtigkeiten einzudämmen, versucht man durch „Tactical Voting“ taktisch zu wählen und KandidatInnen, die eine Chance auf die Mehrheit in einem Wahlbezirk haben, lieber seine Stimme zu geben. Auf Internetseiten konnte man sein „Vote-Swapping“ betreiben und absprechen, wo es sinnvoller wäre, anders zu wählen.
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