In seinem Debütroman „Torben stirbt im Wohnzimmer“ erzählt Levend Seyhan die Geschichte einer Freundschaft. Kaan und Torben teilen seit ihrer Schulzeit die Liebe für Tennis, Literatur, Filme und verrückte Streiche. Und sie teilen die Erfahrung von Gewalt. Kaan wird als Sohn türkischstämmiger Eltern immer wieder Opfer rassistisch motivierter Gewalt. Torben wird von seinem Vater regelmäßig misshandelt, bis dieser Mutter und Sohn verlässt. Der Roman handelt von den Versuchen der beiden Freunde, die traumatische Jugend gemeinsam zu bewältigen und für sich einen Ort in der Welt zu finden. Dabei macht es ihnen das Leben nicht gerade leicht. Und sie selber es sich auch nicht.
Wir begegnen dem 32-jährigen Protagonisten Kaan zum ersten Mal auf dem Tennisplatz. Das Match beginnt, Kaan hat den ersten Aufschlag und vergeigt es gewaltig. Der Ball landet zweimal hintereinander im Aus: Doppelfehler! Und schlimmer noch: doppelter Doppelfehler. Denn das Tennismatch findet nur in Kaans Kopf statt, während er real als Aufnahmeleiter für eine TV-Serie am Set sitzt und durch seine Tagträumerei den Dreh ebenfalls vergeigt. Tags darauf ist er arbeitslos, seine Freundin Sonja hat ihn schon vor Wochen verlassen und er lässt sich gehen. Unverhofft poltert sein verschollener bester Freund Torben bald darauf an die Wohnungstür und ist plötzlich und ohne weitere Erklärung wieder da. Die beiden haben sich jahrelang nicht mehr gesehen und knüpfen eine Woche lang direkt da wieder an, wo sie aufgehört haben: Sie betrinken sich, werfen sich geistreiche Zitate an den Kopf und betreiben eine Zwei-Mann-Textwerkstatt, deren Erzeugnisse sie als Höhepunkt der Nächte in der Nachbarschaft verteilen: Gedichte in private Briefkästen, ein paar Romanfetzen für die Windschutzscheiben parkender Fahrzeuge, Dada-Schnipsel für das Gericht und den Kindergarten – niemand soll zu kurz kommen, niemand wird verschont. Die Freunde scheinen wieder glücklich vereint.
Die Risse lassen sich nicht zuschütten
Kaan blüht wieder auf und entkommt in der Wiedervereinigung mit seinem Freund für kurze Zeit der Schwere seiner inneren Zerrissenheit. Torben fängt an, die Videosammlung seines Freundes neu zu ordnen und die Möbel in dessen Wohnzimmer neu zusammenzubauen. Doch dann stellt sich heraus: Torben hat Leukämie und ist zum Sterben zurückgekehrt. Er hat niemanden mehr außer Kaan. Sein Vater ist ein Arschloch und seine Mutter tot; Torben hat seine Freundin Lina vor Jahren verlassen, um eine Odyssee durch Europa zu starten. Sein Ziel: Das alte Leben hinter sich zu lassen und sich neu zu erfinden. Nun ist er zurück und beschwört seinen Freund, dessen inneren Dämonen nicht zu gestatten, sein Leben und seine Beziehung zu Sonja zu zerstören. Gleichzeitig hat er einen schweren letzten Zwischenstopp vor sich: Zufällig trifft er Lina vor dem Beate-Uhse-Shop, in dem er zwischenzeitlich arbeitet, um wieder in die deutsche Krankenversicherung zu kommen. Auch mit Lina vollzieht er ein Abschiedsritual wie vorher mit Kaan. Eine Woche bleibt er, dann trennt er sich für immer von ihr, um ihr das Ende zu ersparen: Endstation Krankenhaus. Nur Kaan darf ihn auf dieser letzten Station seiner Reise begleiten.
Im Krankenhaus ruft Torben eine Patientengruppe ins Leben, die sich lieber im blühenden Garten des Krankenhauses gegen den Tod auflehnt, statt die üblichen Therapien bettlägrig über sich ergehen zu lassen. Zusammen versuchen die Freunde, dem Tod zu trotzen. Am Ende des langen und schmerzvollen Kampfes siegt wie immer die Biologie über den Geist. Doch für Kaan ist dies erst der Beginn seiner Reise (zu sich selbst).
Häusliche Gewalt – rassistische Gewalt
Rückblenden führen im Verlauf der Handlung immer wieder zurück in eine Jugend, in der Gewalt und Ausgrenzung an der Tagesordnung sind. Der „türkische“ Junge, der eigentlich ein deutscher ist, aber selbst nicht bestimmen kann, wer er sein will oder sein soll, weil „alle in einem sehen, was sie wollen“, schließt Freundschaft mit dem deutschen Jungen, der nicht weiß, wo er hin soll, weil sein Vater ihn für Abschaum hält und schlägt. Torben beschützt Kaan physisch, wo er kann, und umgekehrt beschützt Kaan durch seine Phantasiewelten Torben vor der Leere, die durch Ablehnung entsteht. Vor den Tätern können sie trotzdem nicht entkommen. Nazis verfolgen Kaan bis ins Studentenalter und schlagen ihn brutal zusammen, weil er „Kanake“ ist. Schonungslos wird die Spirale der Gewalt beschrieben: Irgendwann schlägt das Opfer zurück und verletzt selbst einen anderen, der ihn als „Kanaken“ bezeichnet.
Lakonisch und in die Figuren verliebt
Seyhan erzählt die Geschichte einfühlsam und lakonisch zugleich. Der Autor verharrt nicht in Klischees. Eine Stärke des Textes ist die eigenwillige, manchmal ungewohnt kantige Zeichnung der Figuren. Der Protagonist ist nie „nur“ Türke in Deutschland, von der Geliebten Verlassener, um seinen Vater und den besten Freund Trauernder. Seyhan verbindet in seinem Debütroman Themen des Zusammenlebens in einer multikulturellen Gesellschaft mit Fragen nach dem Ort des Individuums in einer (gewalttätigen) Leistungsgesellschaft und der Hilflosigkeit angesichts des Todes. Die Figuren werden dabei nicht zu Projektionsflächen, die von der Heftigkeit und Breite der Themen erdrückt werden. Sie bleiben „echt“ und laden zum Mitleiden, aber auch zum Mitschmunzeln ein. Denn wie hart das Leben ihnen auch zusetzt – sie bewahren sich stets ihren eigenen Humor. Bis zum Schluss und darüber hinaus.
Levend Seyhan: „Torben stirbt im Wohnzimmer“
186 Seiten, Größenwahn Verlag
2013, 21,90 Euro
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