In seiner rund 180 Seiten starken Abhandlung „1968“ nimmt der Autor „Texte und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik“ unter die Lupe und lenkt sein Augenmerk auf ein „bislang unbekanntes ´68“: Gerade die in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich durchgesetzte Publizität der neoliberalen Anschauungen mache die (Neu-)Entdeckung dieses für die Historie der BRD bedeutsamen Kulminationspunktes der Zeitgeschichte notwendig. Nur so könnten Alternativen zur „altbekannten neuen Welt“ des entfesselten Kapitalismus wieder verstärkt ins politisch-kulturelle Bewusstsein der Gegenwartsgesellschaft gerückt werden.

´68 als politisch-kultureller Aufbruch

Durch seine akribische wissenschaftliche Analyse der Originalquellen dieser Zeit will Thomas Hecken auch einer spekulativen Mythifizierung des Phänomens ´68 entgegenwirken. Mit seinem Buch ist ihm eine sehr vielschichtige, facettenreiche Gesamtschau auf das Schlüsseljahr einer politischen Bewegung gelungen, die nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine künstlerische Zeitenwende hätte markieren können, wenn ihre weltanschaulichen Ideale sowie ihre bereits von den Situationisten vorgeprägte Maxime, die Kunst ins Leben zu tragen, Allgemeingut geworden wären. Der Rezipient begegnet in der sehr anschaulich essayistischen, zugleich aber wissenschaftlich äußerst fundierten Darstellung der politisch-kulturellen Dimension von ´68 und der „Aufbruchstimmung“ jener Zeit so unmittelbar, wie es das Genre einer solchen theoretischen Untersuchung eben zulässt.

Wegweisende Grenzüberschreitungen der Neuen Linken

Inhaltlich gliedert sich das Buch in zwei Hauptteile, wobei der erste der politisch-ökonomischen Kritik, der zweite Teil den Lebensformen dieser Zeit gewidmet ist. Gerade das Postulat der Grenzüberschreitung, der Überwindung der bürgerlichen Dichotomisierungen wird in der inhaltlichen Konfiguration spielerisch aufgegriffen: Teil eins vollzieht sich entlang der ideengeschichtlichen Einordnung der Bewegung und markiert gleichsam die wesentlichen Ereignisse: Die Geschichte der Neuen Linken wird von den frühen Berkeley-Campus-Protesten ´64 bis zu ihrem Eingehen in die diversen Parteibildungen (altlinker Prägung) nachgezeichnet. Paradigmenwechsel innerhalb der Bewegung von Marcuses Kritik an der eindimensionalen Gesellschaft über die Inthronisierung der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt bis zu Rudi Dutschkes Aufruf zur Bildung einer Verweigerungs- und Sabotageguerilla werden anschaulich dargestellt.

Auch das Private ist politisch

Da die Entfremdungs- und Konsumkritik zudem die Frage nach der eigenen Lebensführung aufwirft, wird im zweiten Teil das Politische in der Logik der Bewegung zwangsläufig zum Privaten. Die alternativen Lebensformen der Hippies, Kommunarden und Underground-Apologeten werden anhand ausführlicher Quellenarbeit beschrieben, wodurch das Jahr ´68 gleichzeitig eine Würdigung als Initiation eines vorübergehenden Bündnisses der diversen Strömungen erfährt. Dem Zerfall dieser Konstellation sowie den entstehenden Konflikten zwischen „reformistischen“ Ansätzen, in die Ökologiebewegung ausmündenden politischen Alternativen und verhärteten politischen Positionen radikaler Splittergruppen wird vom Autor in der abschließenden Kritik an der ´68er-Bewegung Rechnung getragen.

Bild einer aufregenden Zeit

Gerade durch seine Analyse teils in Vergessenheit geratener Quellen leistet der Autor einen wichtigen Beitrag zur Schließung einer Forschungslücke. Darüber hinaus ist es sein Ziel, „eine Synthese zu liefern, die durch ausgewählte, bedeutende Beispiele die wichtigsten Ausprägungen der im Frühjahr / Sommer 1968 bereits allgemeiner geläufigen Argumente und Pläne vorstellt, eine Zusammenschau, die Unterschiede zwischen den ´68er-Strömungen herausstellt, sich aber ebenfalls bemüht, deren (vorübergehende) Übereinstimmungen zu präsentieren, ohne einfach der mythischen Einheit der Jahreszahl zu erliegen.“ Auch ist es sein Anliegen, durch den Rekurs auf englisch- und französischsprachige Quellen den Fokus auf die internationale Dimension der Bewegung zu erweitern: Beiträge von Pierre Bourdieu, Noam Chomsky, David Cooper, Rudi Dutschke, André Glucksmann, Jürgen Habermas, Stuart Hall, Tuli Kupferberg, Herbert Marcuse, Jean-Paul Sartre, Susan Sontag sowie Artikel ihrer Gegenspieler Raymond Aron, Joachim Fest, Niklas Luhmann und vieler anderer bieten die Folie für ein umfassendes und detailliertes Bild einer aufregenden Zeit.

Carsten Marc Pfeffer, USch

Dr. phil. habil. Thomas Hecken ist Privatdozent für Deutsche Philologie an der Ruhr-Universität Bochum. Jüngste Publikationen: „Gegenkultur und Avantgarde 1950-1970. Situationisten, Beatniks, 68er“ (Tübingen 2006); „Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF“ (Bielefeld 2006).

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