Die schon vor Jahren privatisierte NOKIA-Bahn heißt jetzt „Glück-auf-Bahn“ und Raider heißt jetzt Twix – sonst ändert sich nix. So könnte die Quintessenz der organisierten Arbeiterverarschung im Zuge des Exodus des finnischen Elektronikkonzerns aus Bochum umrissen werden, die Regisseur Frank Abt im Rahmen des Projektes „Neue Heimat“ auf die Wohnküchenbühne bringt.
Noch einmal ist alles da: Vor den Augen des mehr oder weniger nokiakundigen Publikums wird die Produktionsszenerie scheinbar wieder lebendig – die Montagehalle mit ihren 45 sogenannten „Brezelzellen“, in denen jeweils acht bis zehn NokianerInnen arbeiteten, und der Verpackungsbereich mit seinen ehemals 800 MitarbeiterInnen. Als Kulisse dient die Einbauküche, die als integraler Bestandteil des Neue-Heimat-Projekts im TuT installiert wurde. Am prall getränkegefüllten Kühlschrank prangt eine kryptische Botschaft: „Life is full of difficult decisions.“ Indifferent und desorientiert jedoch wirken die drei AkteurInnen: Mal als melancholischer Betriebsratsweichling, mal als zynisch-schmeichlerischer NOKIA-Propagandist und dann wieder als Arbeitnehmerdepressionen behandelnde Psychologin wuseln sie durch die Wohnküchenwerkshalle, die als Kulisse eher gezwungen und somit deplaziert wirkt. Und wenn sie immer mal wieder in die Arbeitnehmerhaut schlüpfen, sagen die AkteurInnen vorzugsweise inhaltsleere Sätze wie: „Es war relativ erträglich hier.“
Chronik eines nicht gekämpften Kampfes
Das maximale Maß an kämpferischer Kapitalismuskritik, das die 25 von Frank Abt zum Bühnenstück verarbeiteten Interviewpassagen mit ehemaligen NOKIA-MitarbeiterInnen sowie der Werksleitung hergeben, ergeht sich in systemimmanenter Symptomkritik: „Wenn alle nur noch nach dem Billiglohnprinzip arbeiten, dann gehen hier bald die Lichter aus.“ Letztlich bleibt das Stück jedoch genau an derselben Stelle stecken wie die traurige Realität: Ein tatsächlicher Arbeitskampf findet nicht statt – geschweige denn eine dauerhafte Werksbesetzung. Stattdessen geht’s zum kollektiven placebomäßigen Brezelessen und Kühlschrankleertrinken an oktoberfestartige Bänke, die unter aktiver Mitwirkung der ZuschauerInnen in der Wohnküche installiert wurde. Zum Abschluss springen drei SchauspielerInnen abwechselnd zwischen den Bänken auf und erklären nacheinander: „Ich bin Günter Wallraff.“ Anhand des ‚Systems Lidl’ erklären sie dem Publikum, dass hier „jeder zum Opfer werden“ könne. Wie man das vielleicht ändern kann, erfährt mensch jedoch nicht, und wird – gefrustet oder (zumindest um das Eintrittsgeld) erleichtert – nach Hause entlassen.
Versichern und Fressen
Alles fällt auseinander, nichts passt zusammen. Mit diesem postmodernen Gefühl konfrontierte die Theatergruppe „The Tanner 6“ ihr Publikum, als sie am Samstag die Performance „Versichern und Fressen“ uraufführte. Fragmentierte Textbausteine, der geschickte Einsatz von Geräuschen, Raum und Licht und das ausgefeilte Arrangement dieser Elemente zu einem stimmigen Ganzen machten die Performance zu einem besonderen Theatererlebnis. Dabei ist schwer fassbar, worum es in „Versichern und Fressen genau geht. Die Texte kreisen um den Kernsatz „Mein Wohnzimmer ist mein Panikraum“. Sie behandeln die Angst vor einer (Außen-)Welt, welche die Charaktere mit einer unfassbaren Fülle von Eindrücken und Möglichkeiten überfordert; den Wunsch nach einfachen technischen Lösungen für überkomplexe Probleme; das Zerfallen von persönlichen Beziehungen und die Insuffizienz von Ideologie und Utopie. Diese Themen werden im Spiel stimmig umgesetzt: Alle Charaktere handeln und sprechen unabhängig voneinander, ein Zuammenspiel findet ausdrücklich nicht statt oder bleibt ein flüchtiger Moment, etwa wenn sich alle Charaktere unvermittelt zu einem gestellten Familienfoto zusammenfinden. Das Ensemble befindet sich im Zustand geteilter Einsamkeit. Zu Beginn und inmitten des Stücks verfallen die SpielerInnen in hospitalistische Bemühungen, ihre Umgebung zu begreifen: „Erkennen, Verstehen, Erfahren“. Geschickt werden die gesprochenen Parts immer wieder mit Tonfragmenten aus Kassettenrekordern und Laptop untermalt und verbunden. Eine sich zu unerträglichem Krach steigernde Verfremdung von Stimmen mittels Effektgerät und Verstärker bildet den akustischen Höhepunkt der Performance.
Alle Texte und das Konzept der Performance wurden von der Theatergruppe selber entwickelt, die sich aus Studierenden der Fakultät für Theaterwissenschaften an der RUB zusammensetzt. „Wir haben von Null angefangen und zuerst einmal Texte gesammelt, in denen wir persönliche Anliegen behandeln“, berichtet Rasmus Kahlen von den Anfängen des Schaffensprozesses. Herausgekommen ist schließlich eine Performance, die nicht zuletzt ideal mit ihrem Spielort korrespondiert. Die Wohnzimmeratmosphäre im TuT sorgt dafür, dass das gesamte Publikum Teil des „Panikraums“ wird, den The Tanner 6 beschreiben. Am Ende: großer Applaus für die Theatergruppe, die anders als bei dem NOKIA-Projekt auf gänzlich ungekünstelte Art und Weise verstörende, philosophische und anrührende Momente zu verbinden verstand.
„Versichern und Fressen“ ist am Donnerstag, den 18. Dezember, um 19.00 Uhr noch einmal zu sehen. Â
„Connecting People“ wird am Sonntag, den 21.12., sowie am Dienstag, den 6.1.ebenfalls jeweils um 19.00 Uhr gezeigt.
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