Bild: cc0

Einmal im Internet – immer im Internet. Was früher nur peinlich war, wird heute zum Meme-Material. Eine bekannte Marke klatscht einen frechen Werbespruch drauf und plötzlich ist Fremdgehen Popkultur. Was sagt das über unsere digitale Öffentlichkeit aus?

Es ist der 16. Juli und der Musiker Coldplay gibt im Gillette Stadium in Massachusetts ein Konzert für seine unzähligen Fans. Die Kiss Cam – eine Unterhaltungsform, bei der zwei Menschen zum Küssen aufgefordert werden – streift über das Publikum und bleibt an einem Pärchen hängen, das eng umschlungen zur Musik wippt. Als sie sich auf dem großen Bildschirm erkennen, zeigen sie eine kuriose Reaktion. Denn statt sich zu küssen, versuchen beide panisch den Blicken der Öffentlichkeit zu entkommen und ducken sich weg. Das hat auch einen bestimmten Grund: Der verheiratete CEO Andy Byron wird hier vor laufender Kamera dabei erwischt, wie er mit seiner Personalchefin fremdgeht. Durch die Kiss Cam wird dieser Betrug in Echtzeit in die Welt hinausgetragen. Und wie das nun Mal im Jahr 2025 so ist, wird dieser Clip hunderte Male hochgeladen und geht kurz darauf auf verschiedenen Social Media Plattformen viral. Es ist einer dieser Fremdscham-Momente, bei denen man nicht weggucken kann – und auch nicht mehr soll.

In den Kommentaren finden sich Stimmen voller Empörung, Belustigung, Wut und Schadenfreude wieder; die Menschen wollen mehr. Es reizt sie. Sie werden von Faszination und Schaulust angetrieben, das Drama ist für sie pure Unterhaltung und DIE Möglichkeit, den eigenen Voyeurismus auf Kosten anderer zu befriedigen. Das Internet bietet dafür die perfekte Bühne. Live dabei, wenn das Vertrauen stirbt – aber bitte mit Hashtag.

Auf diesen Zug springen auch bekannte Marken mit auf und schon wird menschliches Versagen zur Markenbindung genutzt. Ryanair macht einen Gag über Fluchtmöglichkeiten, Burger King über Whopper statt Beziehungstreue. Währenddessen macht Yacht Albania das Fremdgehen sogar zum Aushängeschild und wirbt:„We dont have Kiss Cam (just so you know) – It’s only you, your CEO & our yacht.“ Da saß wieder Mal ein richtiger Scherzkeks vor der Tastatur, ich merk schon. Diese moralisch ziemlich fragwürdige Marketingstrategie hat allerdings einen gar nicht mal so dummen Hintergrund.
Die Menge an Internetnutzer:innen wächst stetig und die Aufmerksamkeitsspanne scheint damit fast zeitgleich kürzer zu werden – das ist auch den Unternehmen bewusst. Sie nutzen Meme-Marketing, um Aufmerksamkeit zu generieren und eine emotionale Bindung zu schaffen. Dafür orientieren sie sich an aktuellen Trends oder Ereignissen und setzen auf Unterhaltung. Populäre und virale Memes sind da ein effektives Mittel. Sie reizen uns im digitalen Alltag, da sie auf eine maximale Aufmerksamkeitswirkung in minimaler Zeit setzen und einen Wiedererkennungswert haben. Sie fallen uns auf und prägen sich uns ein – genauso wie die Werbung, die hinten dranhängt. Kein Wunder, dass sich der Kiss Cam-Clip im Nu in einen Werbeslogan verwandelt hat.

Unternehmen machen immer wieder Content aus Tränen und ziehen Klicks aus Krisen – alles, solange es sich verkauft. Was denen dabei egal ist, ist wie es den Leidtragenden am Ende geht. Empfindungen werden banalisiert. Für Werbung wird nicht mehr mit Geld, sondern mit Gefühlen gezahlt. Byrons Noch-Frau kann jetzt live beobachten, wie ein schrecklicher Moment in ihrem Leben zu einem kommerzialisierten Running-Gag wird. Das ist ganz schön hart, finde ich.
Gleichzeitig zeichnet das aber auch ein trauriges Abbild unserer heutigen Gesellschaft.

Einer Gesellschaft, die immer zuschaut, alles bewertet – und in der niemand mehr sicher sein kann, dass peinliche oder schmerzhafte Momente nicht von gierigen Unternehmen zum Aushängeschild einer Marketingkampagne verwandelt werden. Mitgefühl und Empathie Ade. Und plötzlich steht die Monetarisierung des Skandals dem eigentlichen Skandal in nichts nach. Der Kiss Cam-Clip ist das Paradebeispiel dafür. Surrealer kann die Realität nicht sein.

:Alina Nougmanov

0 comments

You must be logged in to post a comment.