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Heutzutage kann man sich mühelos ins Flugzeug setzen und fremde Orte entdecken. Vor ein paar Jahrhunderten übernahmen Schiffe diese Aufgabe und halfen den Menschen dabei, an die entferntesten Winkel zu gelangen. So begibt sich im 19. Jahrhundert auch der russische Schriftsteller Ivan Aleksandrovič Gončarov (Oblomov 1859) auf eine Reise in die Ferne und hält seine Eindrücke auf Papier fest – durchtränkt mit dem Blick eines Europäers.

Obwohl der Begriff Reiseliteratur nicht eindeutig eingegrenzt werden kann, existiert sie schon lange und umfasst eine Vielzahl an verschiedenen Textsorten unterschiedlicher literarischer Gattungen. Mit ihrem Inhalt kann sie wertvolle historische Informationen vermitteln und (jedoch nur bedingt) einen Einblick in vergangene Zeiten geben. Von Homers Odyssee über Defoes Robinson Crusoe bis zu zahlreichen Expeditions- und Reiseberichten – sie kann sowohl fiktiv als auch nicht-fiktional sein und manchmal verschwimmen sogar die Grenzen dazwischen. Authentizität wird dabei zu einem zentralen Bestreben vieler Autoren, doch sind die Werke meist geprägt von der Subjektivität und Individualität des Reisenden sowie von den Erwartungen der Rezipienten. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass Reiseliteratur alles andere als objektiv und neutral ist.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts floriert die europäische Kolonialisierung in einem riesigen Ausmaß und auch Russland schließt sich dem Treiben des wachsenden Kolonialismus an. Zu dieser Zeit gerät der Autor Gončarov, der zu dem Zeitpunkt in seinen Vierzigern ist, in eine Schreibkrise. Die Idee einer Weltreise als mögliche Lösung für seine Blockade verleitet ihn schließlich dazu, mit der Fregatte Pallada (dt. „Pallas“) in See zu stechen und fremde Länder zu bereisen. Er geht als Sekretär einer Expedition an Bord, deren eigentliches Ziel es ist, mit Japan zu verhandeln. Zu Beginn erfahren wir von Gončarovs zwiegespaltener Einstellung zum Bild von der Reise in die Ferne und seiner inneren Zerrissenheit. Die ferne Fremde beschreibt er als etwas Schönes und Geheimnisvolles; ein magischer Ort, der durch die Hand der Menschen seines Zaubers beraubt wurde. Er kritisiert den Modernisierungs- und Verwestlichungsdrang der Europäer.

Seine Reise führt ihn aus dem Hafen Sankt Petersburgs hinaus durch den Atlantik, über das Kap der guten Hoffnung bis in die Tiefen Singapurs und Japans, bevor er sie aufgrund des ausbrechenden Krim-Kriegs abbricht. Während seiner Reise trifft er auf verschiedene Völker und wird mit Kulturen und Lebensweisen konfrontiert, die ihm völlig fremd sind. So beschreibt er beispielsweise Singapur als Weltmarkt mit einer Infrastruktur, die sich im Rückstand befindet und in dem sich sowohl nützliches asl auch nutzloses tummelt. Das Anwesen eines chinesischen Kaufmanns nimmt er als sehr prächtig und ausgefallen wahr, während die restlichen chinesischen Viertel in seinen Augen heruntergekommen wirken. Seine Reise stellt sich generell als ziemlich holprig und problembelastet dar. Es kommt immer wieder zu Verzögerungen, die zum Teil auf die schlechten Vorbereitungen der Reise zurückzuführen sind. Diese Probleme werden jedoch überwiegend ironisch aufgearbeitet.

Der Reisebericht setzt sich aus einer Mischung aus persönlichen Tagebucheinträgen sowie Briefen an Freunden zusammen. Seine Fremdheitserfahrungen und Eindrücke erweitert er mit geografischen und historischen Daten sowie informativen Einschüben, die Erlebnisse schmückt er mit den rhetorischen Mitteln der Sprache aus. Die Wahrnehmungen anderer Völker stellt er in den Kontext seiner eigenen kulturellen Normen und betrachtet sie durch die Augen eines Europäers, der sich in seiner Existenz den anderen Kulturen überlegen fühlt. Das führt auch dazu, dass diese literarische Inszenierung bloß als Repräsentationsversuch der Wirklichkeit gesehen werden darf und nicht mit ihr gleichgesetzt werden sollte. Denn an sich sind seine Schilderungen wirklich interessant und angenehm zu lesen. Er beschreibt auf spannende und sehr bildhafte Weise seine gesammelten Eindrücke. Wir bekommen einen Einblick in seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Dabei zeigt er die Vielfalt von Kulturen und Ländern im 19. Jahrhundert und spiegelt gleichzeitig die Angst des Menschen vor dem Unbekannten. Man hat einerseits das Gefühl, man entdeckt eine uns selbst fremde Welt, andererseits wird man durch die Erzählungen auch an Klischees und Vorurteile erinnert, die zum Teil bis heute noch bestehen. Bei dem Reisebericht handelt es sich wortwörtlich um eine Reise zurück in die Vergangenheit und er erinnert uns daran, dass wir zwar einen weiten Weg hinter uns haben, aber noch ein bedeutsames Stück davon vor uns liegt. Definitiv wert, einmal reinzuschauen.

:Alina Nougmanov

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