Kommentar. Seit 1975 hält Marokko die Westsahara besetzt und plündert sie aus, größter Kunde ist die EU. Nun könnte es zum bewaffneten Aufstand kommen.
Für einige wenige kam es unerwartet, aber nicht wirklich überraschend. Die meisten dürften dagegen kaum zur Kenntnis genommen haben, dass es ein Land gibt, das Westsahara heißt und in dem jetzt nach 29 Jahren wieder Krieg herrscht. Auslöser war das brutale Vorgehen marokkanischer Soldaten gegen sahrawische Aktivist:innen. Die Volksfront zur Befreiung der Westsahara (POLISARIO) erklärte daraufhin den seit 1991 geltenden Waffenstillstand für obsolet.
Der Konflikt schwelt seit fast einem halben Jahrhundert. 1975 marschierte Marokko in das Nachbarland ein, das eben erst unter Führung der links-nationalistischen POLISARIO seine Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialismus errungen hatte: Der marokkanische König proklamierte einen „Grünen Marsch”, bei dem 350.000 Marokkaner:innen über die Grenze zogen, um angeblich friedlich vermeintlich marokkanischen Boden in Besitz zu nehmen. In Wahrheit war die Armee zuvor mit Bomben und Napalm gegen die Bevölkerung vorgegangen und hatte Zehntausende vertrieben. Seither befinden sich die POLISARIO und der marokkanische Staat im Krieg.
Die Westsahara ist heute gespalten: Den Westen hat Marokko annektiert; hier leben etwa 125.000 Sahrawis und 375.000 marokkanische Siedler:innen. Das Gebiet macht den Großteil des Landes aus, ist mit Marokko verbunden und umfasst die gesamte Küste. Damit hat es nicht nur geostrategisch, sondern auch wirtschaftlich extremen Wert. Die Westsahara ist reich an Fisch und Phosphat. Letzteres wird insbesondere für die Landwirtschaft gebraucht. Größter Abnehmer ist die EU. Trotz EuGH-Urteilen, die den Kauf von geraubten Produkten verbieten, werden nach wie vor Lebensmittel — Fisch, Tomaten und Paprika —, vor allem aber Phosphat für Kunstdünger aus der Westsahara unter der Fake-Herkunftsbezeichnung „Marokko” in die Mitgliedsstaaten verkauft. Rückendeckung kriegt das marokkanische Regime auch von den anderen arabischen Diktaturen, die sich „Monarchien” nennen, vor allem von Saudi-Arabien und Bahrain.
Die Gebiete der POLISARIO sind Wüstenregionen im Landesinnern, eingeklemmt zwischen Mauretanien und den besetzten Gebieten. Die meisten Sahrawis, geschätzt 165.000, leben allerdings in Flüchtlingslagern kurz hinter der Grenze in Algerien. Getrennt wird das Land durch einen von der marokkanischen Armee gehaltenen Wall aus Sand, Geröll, Stacheldraht, Elektrozäunen und Minen, die nicht selten Zivilist:innen, vor allem Kinder, das Leben kosten. In den Flüchtlingslagern herrschen Armut und Perspektivlosigkeit. Es ist der POLISARIO zu verdanken, dass unter den jungen Menschen, die seit 30 Jahren in Lagern auf die leeren Versprechungen von UNO und Marokko warten, Gruppen wie der IS bislang wenig Chancen haben. Trotzdem ist die Wut nicht zu unterschätzen: Nicht wenige Jugendliche wollen einen Krieg gegen die Besatzer. Nicht weil sie an einen militärischen Sieg glauben. Sie wollen der Welt zeigen, dass es sie noch gibt. Unmittelbar nach Ende des Waffenstillstands kam es zu Angriffen auf marokkanische Truppen, das Regime spielte sie herunter. Seither scheint es still zu sein. Ob es sich um die Ruhe vor dem Sturm handelt oder die POLISARIO nur Stärke demonstrieren wollte, wird sich zeigen. Klar ist allerdings: Die Sahrawis haben das Recht, sich gegen Unterdrückung und Raub zu wehren, auch militärisch. Schuld trägt Marokko. Aber auch die EU, die die Ausplünderung der Westsahara finanziert und Marokko politisch den Rücken stärkt.
:Leon Wystrychowski
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