Kommentar. Singende Menschen und europäische Gefälligkeiten – der während der Pandemie beschworene Zusammenhalt der Völker macht spätestens an den europäischen Außengrenzen Halt.
„Seid umschlungen Millionen“ – die Ode „An die Freude“, deren Instrumentalversion die Hymne der Europäischen Union ist, steht für eine freundschaftlich verbundene Wertegesellschaft gleichberechtigter Menschen, für die Einheit in Vielfalt. Angesichts der Corona-Pandemie wurde häufig an den „Zusammenhalt“ der Bevölkerungen appelliert. Nachbarschaftshilfen sind Beispiele für lokale Solidarität, die in deutschen Kliniken aufgenommenen italienischen Intensivpatient*innen für die europäische, welche jedoch angesichts wirtschaftlicher Fragen auch zu bröckeln droht, wie die Uneinigkeit über die Einrichtung von „Euro-Bonds“ zeigt. Doch scheint Empathie endgültig an den europäischen Außengrenzen oder jenseits der Linien der westlichen Welt zu versiegen.
So gibt es Menschen, die #StayAtHome nicht praktizieren können, weil sie sich auf der Flucht vor Krieg oder Verfolgung befinden und denen #SocialDistancing nicht möglich ist, weil sie zusammengepfercht in einem Container oder Zelt schlafen müssen, bei Minusgraden. Allein auf den griechischen Inseln sind um die 42.000 Geflüchtete „gestrandet“, denen eine Einreise in die EU seit langem erschwert wird; systematische Registrierungsverfahren gibt es nicht und Anfang März setzte Griechenland das Asylrecht praktisch komplett aus. Das größte Lager und ein Symbol für die von der EU geduldete Menschenunwürdigkeit ist Moria auf Lesbos: Über 20.000 Menschen, etwa 8.000 von ihnen Kinder, leben in und um ein Camp, das auf 3.000 ausgelegt und mit kaum Elektrizität und nur wenigen Stunden fließend Wasser am Tag ausgestattet ist. An den Essensausgaben und Duschen sind die Wartezeiten lang, medizinische Versorgung ist kaum vorhanden, angesichts der weltweiten Lockdowns sind viele Helfer*innen abgereist, die Bewegungsfreiheit der Bewohner*innen wurde eingeschränkt und finanzielle Hilfspakete eingestellt. Das Virus, welches bereits auf Lesbos angekommen ist, könnte sich in Moria rasant verbreiten: Es braucht eine sofortige Evakuierung des Lagers. Dass sich die EU bereit erklärt hat, insgesamt 1.600 Kinder aufzunehmen, ist angesichts der Situation nicht nur höhnisch unzureichend, sondern entspricht nicht annähernd dem Höchstsatz der im Koalitionsvertrag vereinbarten Aufnahmen und den Hilfsangeboten von über 100 Kommunen in Deutschland allein.
Kälte und Krankheit ausgeliefert sind auch die Schutzsuchenden, die in prekären Unterbringungen an der bosnisch-kroatischen Grenze feststecken. Einige von ihnen versuchen monatlich mehrmals die kroatische Grenze zu überqueren, nur um immer wieder gewaltsam von der Polizei aufgehalten und ihrer wenigen Habseligkeiten beraubt zu werden. Dass Angehörige bereits in der EU leben, hilft nicht; in der Krise fliehen die letzten Helfer*innen und Journalist*innen, fast niemand schaut mehr hin.
„Also es wissen alle, aber man will es nicht thematisieren“, sagt Soziologe Raphael Bossong in einem ZDF-Beitrag zum Thema. Auch ich kann mich nicht ausschließen: Es fällt zu leicht, sich wieder der Selbstoptimierung und Zerstreuung zuzuwenden, vermeintlich Fremde aus dem eigenen Verständnis von „die Schutzbedürftigen unserer Gesellschaft“ auszuschließen. Menschen, die atmen, denken, träumen wie wir, nur als „Zahlen in einer Statistik“ wahrzunehmen; den Kollateralschaden aus der Dritten Welt, den Link, auf den man nicht klickt, die aus Elysium ausgeschlossenen.
Wer die globale Triage nicht akzeptieren will, kann sich an Online-Aktionen beteiligen, etwa unter den Stichworten #LeaveNoOneBehind oder #humanitätjetzt. Gerade entscheidet sich, was europäische und menschliche Solidarität wirklich heißt und wo sie ihre Grenzen hat –
#DiesenKussderganzenWelt!
:Marlen Farina
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