Mythenkunde. Bluten alle Frauen nach ihrem ersten Mal? In der Öffentlichkeit wird der erste Geschlechtsverkehr einer Frau extrem mystifiziert und mit
Vorstellungen in Verbindung gebracht, die wenig bis gar nichts mit der Realität zu tun haben.
„Aber das Jungfernhäutchen gibt es ja auch so nicht, sondern nur das Hymen.“ Ich schaue verwirrt. Wie hat meine Freundin das denn jetzt gemeint? Ich hake nach, sie holt aus und erzählt mir, dass das Hymen bei jeder Frau anders aussehe, nichts über die Jungfräulichkeit aussage und manche Frauen gar keines haben. Ich bin schockiert. Wenn das stimmt, wie konnte ich das nicht wissen? Wieso dachte ich es handele sich beim Hymen um eine Membran, die bei dem ersten Mal durchstoßen werden muss? Und wieso wird dann von Frauen erwartet, dass Sie nach der Hochzeitsnacht bluten? Während der Recherche für diesen Artikel stellte sich heraus, dass sie Recht behalten sollte.
Irgendwo zwischen den Beinen
Beginnen wir mit der Anatomie. Das Hymen ist eine Schleimhautfalte, die zwischen den Inneren (Klitorisschenkel, Vagina, Muttermund) und den Äußeren (Klitorisspitze, Labien, Harnausgang und Vaginaleingang) weiblichen Geschlechtsorganen liegt. In den meisten Fällen ist es nicht geschlossen und dient bis zur Pubertät als Schutz vor Erregern, während der Pubertät produziert der Körper einer jungen Frau Milchsäurebakterien, die das Hymen überflüssig werden lassen. So, wie sich Vulven von Frauen im Erscheinungsbild unterscheiden, so unterscheiden sich auch die Formen des Hymens. In seltenen Fällen kommt es dazu, dass das Hymen so verschlossen ist, dass kein Menstruationsblut ablaufen kann. Durch einen kleinen chirurgischen Eingriff, bei dem das Hymen eingeschnitten wird, kann die Fehlbildung behoben werden. Lediglich 0,05 Prozent der Frauen sind von dieser Fehlbildung betroffen. Außerdem ist das Hymen elastisch. Bei der einen mehr bei der anderen weniger. Es kann beim Turnen, Joggen, Fahrradfahren, Selbstbefriedigung und unter anderem auch beim Geschlechtsverkehr einreißen – muss es aber nicht. Das gleiche gilt für die Blutung. Wenn das Hymen einreißt, ist noch lange keine Blutung garantiert. Laut pro familia warten 50 Prozent der Frauen beim ersten Sex vergeblich auf Blutstropfen. Oft ist das Einreißen auch kaum schmerzhaft, sondern fehlende Feuchtigkeit und eine verkrampfte Scheidenmuskulatur sorgen dafür, dass Frauen Schmerzen empfinden.
Die Problematik
Genug der Sexualkunde. Es ist nicht schlimm Sachverhalte nicht zu verstehen oder Informationen falsch abzuspeichern. Aber durch den Trugschluss, einen Beweis für die Jungfräulichkeit der Frau zu haben, werden Frauen gewaltig unter Druck gesetzt und bringt sie dazu, einen operativen Eingriff an sich vornehmen zu lassen, die Hymenrekonstruktion. Dabei handelt es sich um eine kleine Operation, welche unter lokaler Betäubung durchgeführt werden kann. Risse im Hymen werden dabei genäht und im Falle eines fehlenden Hymens wird aus vorhandener Schleimhaut eines gefaltet und buchstäblich konstruiert. Der Eingriff dauert nicht mehr als eine Stunde und kostet die Patientinnen zwischen 1.500 und 3.500 Euro und wird auch in Bochum angeboten. Oft haben die Betroffenen dabei nur ein Ziel. Die Ehre der Familie nicht zu beschmutzen. Ein „intaktes“ Hymen ist in konservativmuslimischen Familien die Voraussetzung für eine Vermählung. Der Mythos um das Hymen wird hier zu einem Problem für die muslimischen Frauen, die mit negativen Konsequenzen rechnen müssen, wenn ihre Jungfräulichkeit nicht „bewiesen“ werden konnte. Die Hymenrekostrunktion gibt jedoch keine Garantie, dass die Frau durch eventuelle Risse auch wirklich blutet.
In der Öffentlichkeit hat diese Problematik kaum Aufmerksamkeit gefunden, jedoch startete Jorinde Wiese im vergangenen Jahr eine Petition mit dem Hashtag #KeinBockAufMythen, die fordert, dass die Hymenrekonstruktion als Leistung in der Schönheitschirurgie des Intimbereiches verboten werden soll. Es wird kritisiert, dass die plastische Chirurgie mit einem Mythos, der die Sexualität von Frauen kontrolliert, Geld verdiene. Bisweilen haben 26.500 Menschen die Petition unterschrieben. Sie beruft sich vor allem auf Dänemark, wo der Eingriff seit 2019 illegal ist. In Ihrem Aufruf heißt es: „Diese Ängste sind ernst zu nehmen und es braucht breite Hilfsangebote! Das bedeutet zuerst einmal: Aufklärung! An Schulen und in Kampagnen. Sowie staatlich finanzierte Workshops zur Anwendung von Kunstblut-Kapseln oder Blutschwämmchen. Und im Härtefall natürlich trotzdem die Operation, aber dann auf Krankenkasse, damit Schönheitschirurg*innen nicht an der Angst von Menschen verdienen.“
Der gemeinnützige Verein pro familia, der sich zur Aufgabe gemacht hat ein Angebot für Beratungen zu schaffen, bei denen die selbstbestimmte Sexualität im Fokus steht, sieht sich auch als Ansprechpartner für Frauen, die von Jungfräulichkeitstest betroffen sind oder über eine Hymenrekostruktionen nachdenken. Der Verein verweist auf zahlreiche alternative Methoden, die angewendet werden können, um einem Eingriff zu entgehen und eine Blutung auf anderem Wege vorzutäuschen, zum Beispiel in Form von Vaginalzäpfchen, die Blut oder rote Farbe enthalten.
Wie sieht es denn aus mit der Aufklärung im Unterricht?
Im Land NRW steht Aufbau und Funktion beider Geschlechtsorgane während der Sekundarstufe I fest im Lehrplan. Dabei gebe es keinen klaren Lehrtext zum Blut beim ersten Mal, so Sibille Bergmann, die seit 2012 an der Werner von Siemens Gesamtschule als Biologielehrerin arbeitet. In der sechsten Klasse findet der Sexualkundeunterricht statt und ist bestimmt von Themen, wie Fortpflanzung, Geschlechtskrankheiten, Verhütung, aber auch Achtsamkeit und das erste Mal. „Es kommt auch immer darauf an, welches Interesse die Kinder bei diesem Thema mitbringen und was der Lehrer daraus macht.“ Sibille Bergmann spricht sich auch dafür aus, dass Sexualkunde in der zehnten Klasse wiederholt werden sollte. Für sie war es an der Universität Münster Pflicht, Seminare zur Humanbiologie zu belegen. An der Ruhr-Universität ist es für angehende Lehrer*innen keine Pflicht während ihres Biologiestudiums das Fach Humanbiologie zu besuchen.
:Meike Vitzthum
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