Am 30. Januar 2025 hielt Marvin Sinan Hausherr eine Vorlesung über Autismus, die sich an Lehramtsstudierende richtete. Er klärte über das Störungsspektrum, Vorurteile und Besonderheiten auf und gab Tipps im Umgang mit autistischen Kindern. Besonders authentisch wirkte er, da er die Thematik mit seiner eigenen Biografie als Autist verknüpfte und ungeschont Erinnerungen teilte, die Eindruck hinterließen, bewegten, aber auch schockierten und aufrüttelten.
Er sagt selbst, dass er wohl gar nicht wie ein Autist wirke, wie er da so selbstbewusst vorne steht, redet und gestikuliert. Doch was sich dahinter verbirgt, sieht man nicht auf den ersten Blick: Jahrelange harte Arbeit an sich selbst, Emotionen und Verhalten von Coaches lernen, zu deuten und selbst anzuwenden. Denn wie er selbst direkt zu Beginn sagt: „Kommunikation ist das Passwort zum Leben.“ Und Kommunikation ist das, was für Autist:innen meist am schwersten ist. Wenn ein:e Autist:in beim Kommunizieren deshalb unbeholfen wirkt, wird die betroffene Person oft als komisch abgestempelt, statt ihr Verhalten zu hinterfragen. Vorurteile sind für Marvin das, was oft der Kommunikation auf Augenhöhe im Weg steht. Auch neurotypischen Menschen fällt es also schwer, das ganze Bild zu betrachten so wie es Autist:innen häufig schwer fällt, das ganze Gesicht mit seinen Emotionen zu erkennen oder Augenkontakt zu halten: Sie blicken oft unmittelbar neben die Augen oder fixieren einen bestimmten Punkt im Gesicht.
Marvin berichtet aus seiner Kindheit: Er hat sich alleine wohler gefühlt, wirkte dabei auf andere apathisch. Daraus entstand schnell das Vorurteil, dass er alle hasst. Er wusste aber bloß nicht, wie er kommunizieren sollte. So trifft es seiner Erfahrung nach zu, dass Autist:innen hochintelligent sein und doch an alltäglichen Aufgaben scheitern können. Sie können sogar sprachlich hochbegabt sein und trotzdem Kleinigkeiten in der Kommunikation übersehen oder nicht verstehen. Sie leben in ihrer eigenen Welt, wie Marvin es ausdrückt. Als Autist:in sind Freundschaften aufgrund von kommunikativen Hürden oft fragil, dabei haben sie auch für Autist:innen einen hohen Stellenwert, wenn man angenommen wird, wie man ist und kein „Masking“, d.h. Verstellen, Anpassen, Schauspielern betreiben muss, wie Marvin betont.
Durch die Unterschiede im Sozialkontakt und den meist geringeren EQ, der die emotionale Intelligenz misst, im Vergleich zum oft ausgeprägt hohen IQ (Intelligenzquotienten), können manche Autist:innen Dinge wie Ironie, Humor und Stimmlagen nur schwer erkennen. Das alltägliche und strukturelle Problem hierbei: Soziale Kompetenzen und Kommunikation werden nicht beigebracht, im Schulalltag fehlt vor allem auch das Beibringen von angemessenem Sozialverhalten im Umgang mit Konflikten wie Mobbing. Wie Marvin aus eigener Erfahrung weiß, wird die fehlende soziale Komponente im Leben dann oft durch eine Flucht in ein hohes Arbeitspensum ausgeglichen, bei dem ein gesundes Zeit- und Stressmanagement jedoch nicht vorhanden sind. Der Umgang mit Arbeitskollegen ist für sie oft stressbehaftet und sie im Arbeitsmarkt zu integrieren fällt daher schwer. Wie Marvin aufzeigt, sind nur 10 Prozent der Autist:innen im allgemeinen Arbeitsmarkt, 30 Prozent sind arbeitslos und 60 Prozent in Behindertenwerkstätten. Dass also 90 Prozent der Autist:innen nicht im allgemeinen Arbeitsmarkt sind, erklärt sich Marvin auch durch Berührungsängste, Autist:innen einzustellen. Da Autismus ein sehr großes Spektrum ist, gibt es zudem auch jene Autist:innen, die von vornherein vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen und pflegebedürftig sind. Selbstständige Autist:innen mit wenig Einschränkungen werden dennoch häufig diskriminiert. Es ist problematisch, dass die Kenntnis des Arbeitgebers über den Autismus der Bewerber:innen laut Marvin eher zu Ablehnung führt, da Autist:innen als schwierige Eigenbrötler ohne soziale Kompetenzen abgestempelt werden, obwohl sie mit ihren Bedürfnissen und ihrer Andersartigkeit offen umgehen können sollten. Was hierbei ebenso wichtig zu erwähnen ist und von Marvin nur kurz angeschnitten wird, ist die schwierige Thematik des Autismus bei Frauen. Oft fallen sie nicht auf, passen sich sozial an und sind meist kommunikativ stärker und emotional intelligenter. Grundsätzlich unterstreicht Marvin, dass sich Autist:innen nicht generalisieren lassen. „Kennst du einen Autisten, kennst du nur einen,“ betont er. Alle Autist:innen sind individuell.
Für die Lehramtsstudierenden, für die Marvin die Vorlesung vorbereitet hat, gibt er spezifische Hilfestellungen. Er betont, dass Stabilität besonders für Autist:innen unverzichtbar wichtig ist und die Angst vor Veränderung dementsprechend groß. Rituale als beruhigende Fixpunkte sind ebenso hilfreich wie rechtzeitiges Mitteilen von Veränderungen, denn Unwissenheit erzeugt Stress. Marvin betont jedoch auch, dass es durchaus möglich ist, sich auf Veränderungen einzustellen und dass man autistische Schüler auch ermutigen sollte, Offenheit für Neues zu wagen und sie beim Anstoßen zu unterstützen. Vielen autistischen Kindern bleibt keine andere Möglichkeit, als sich durch Masking anzupassen und die Verhaltensweisen anderer zu kopieren. Wie Marvin immer wieder verdeutlicht, sollten Autist:innen für ihr anders und eventuell komisch wirkendes Verhalten nicht ausgegrenzt oder verurteilt werden. Die Lehrperson sollte die Klasse über den Autismus aufklären und veranlassen, dass alle ein wenig aufeinander zugehen,
– sollte Empathie und Verständnis mit auf den Weg geben, und ein jeder sollte sowohl Rücksicht nehmen als auch versuchen, einen positiven Impact zu hinterlassen. Hierbei kommt Marvin wieder auf sein anfänglich angesprochenes Problem zurück: Kommunikation läuft oft schief und Vorurteile und Missverständnisse gewinnen die Überhand. Seiner Meinung nach sollte versucht werden, sich aufeinander zuzubewegen, statt abzustempeln, man sollte sich bemühen, wirklich zu kommunizieren, zuzuhören und versuchen, zu verstehen.
„Dem autistischen Kind kann auch geholfen werden, indem man ihm Wege erklärt. Indem man Ruheorte schafft, in die es sich bei Reizüberflutung und Bedarf ungestört zurückziehen kann und indem man diese Kinder nicht aus „ihren eigenen Welten“ herausreißt, wie z.B. wenn sie ihre Schritte zählen oder andere für sie stereotype und beruhigende Dinge tun“, erklärt Marvin. Auch Kopfhörer zu erlauben und Klassenkamerad:innen zu sensibilisieren sei wichtig. Das explizite mehrmalige Erinnern ans frühe Aufstehen, an die Dinge, die eingepackt werden müssen oder an die Fächer und Ereignisse, die stattfinden, wäre eine ebenso mögliche Hilfestellung. Im Leben eines autistischen Kindes müssen Tagesabläufe durchgeplant werden, mehrere Möglichkeiten, Orientierungen und Hilfestellungen geschaffen werden. Eine präzise Zeiteinteilung ist für Autist:innen immer relevant.
Laut Marvin bestehe ein Missstand darin, dass das normale Lehramtsstudium nicht systematisch auf autistische Schüler vorbereite, da es sich nicht um ein sonderpädagogisches Studium handelt. Grundlegendes Wissen über Autismus ist jedoch notwendig, da sich auch auf normalen Schulen viele Kinder finden lassen, die betroffen sind, jedoch ohne Erkennung und Hilfe durchs Raster fallen oder missverstanden werden. Marvin findet, es müsse Fortbildungen für Lehrer geben, die über Autismus aufklären. Lehrpersonen könnten dann im Umgang mit betroffenen Kindern und auch mit ihren Eltern bewusster und souveräner agieren. Den angehenden Lehrer:innen rät er, sich fürs Kind einzusetzen und der Elternkritik standzuhalten. Es sei seiner Erfahrung nach nämlich leider oft so, dass Eltern sich nicht beeinflussen lassen wollen und beim Verdacht auf Autismus mit Empörung reagieren. Dabei hat eine offizielle Diagnose für Kinder durchaus Vorteile: Sie hätten dann ein Anrecht auf einen Begleiter vom Jugendamt, der mit der Kommunikation, dem Sozialverhalten und dem zwischenmenschlichen Umgang hilft.
Marvin thematisiert den Deutschunterricht in der Schule als potentiell richtiges Fach, um autistischen Kindern Hilfe zu bieten: Sachtexte und Videos über Rhetorik, Mimik und Körpersprache wären seiner Meinung nach wichtig und wünschenswert. In der Figur des Fausts aus Goethes gleichnamigem Werk habe er sich wiedergefunden. So wird ersichtlich, dass der Deutschunterricht, das Lesen und Eintauchen in Bücher und ihre Welten autistischen Menschen helfen kann, ihre Mitmenschen, Umgebung und auch sich selbst besser zu verstehen und vor allem, Empathie zu erlangen. Wissenschaftliche Erkenntnisse belegen eindeutig: Lesen erhöht faktenbasiertes Wissen und macht es leichter, Gespräche zu beginnen. Vor allem mit Letzterem hadern viele Autist:innen.
Den angehenden Lehrer:innen legt Marvin vor allem eines ans Herz: Es ist wichtig, Vorurteile und das eigene Weltbild zu hinterfragen und Gefühle kontrollieren zu können. Lehrpersonen und Mitmenschen sollten versuchen, hinter die Fassade eines Verhaltens zu blicken. Die Arbeitsverweigerung eines autistischen Kindes sollte dann beispielsweise nicht als Provokation ausgelegt werden, sondern als die Feststellung angenommen werden, dass das Kind höchstwahrscheinlich unterfordert ist oder in der Aufgabe keinen Sinn sieht. Statt bei auffälligem Verhalten sofort eine Verhaltensstörung attestieren zu wollen, muss differenzierter gedacht und das Leiden hinter einer Symptomatik wie Ausrasten oder Aggression gesehen werden. Zu oft werde laut Marvin schnell und oberflächlich verurteilt. Als er selbst Kind und Problemfall für Lehrpersonen war, wurde seiner Mutter nur vorgeworfen, sie hätte ihren Sohn nicht im Griff, weil sie alleinerziehend ist.
Durch Marvins eigene Erzählungen gewährt er uns einen Einblick in das oft missverstandene Innenleben und Verhalten von autistischen Kindern, das tiefergehender und komplexer ist als das oberflächliche Problematisieren. Marvin selbst berichtet, in frühen Schuljahren sei er der „Schläger“ gewesen. Er sei aggressiv und unfähig gewesen, andere zu verstehen oder mit ihnen zurechtzukommen. „Die Gewalt war eigentlich ein Hilferuf meiner geschädigten Seele,“ verdeutlicht er. Das Verhalten eines autistischen Kindes ist oft ein Resultat seiner Überforderung, mit Reizüberflutung umzugehen: Marvin war in der 3. Klasse, als er durch einen Meltdown, d.h. eine akut überfordernde Overloadsituation für eine:n Autist:in, in eine Art „Kampf oder Flucht“ Modus geriet und seiner Freundin einen Stift in den Arm stach. Ein anderes Mal versuchte ein Lehrer ihm einen Stift aus der Hand zu ziehen, den er jedoch fest mit der Faust umschloss und nicht losließ: Einfrieren als Reaktion auf Überforderung. Durch das heftige Stoßen eines Tisches habe er zudem ein Loch in eine Wand geschlagen. Anhand dieser Berichte will er deutlich machen: Aggressives und gewalttätiges Verhalten eines Kindes ist meist kein böser Wille, sondern oft der einzige Schutzmechanismus als Reaktion auf Überforderung sowie die kindliche Unwissenheit und Alternativlosigkeit, mit Verzweiflung umzugehen. Das Gehirn eines autistischen Kindes kann durch die hohen äußeren Verarbeitungsanforderungen überschwappen oder aussetzen, und das Kind braucht dann Ruhe, Isolation und Zeit, um sich wieder zu „resetten“, wie Marvin sagt. Dennoch betont er auf Nachfrage einer Studentin, dass Gewalt natürlich trotzdem nicht zu tolerieren sei und das Kind im Ernstfall rausgeschickt werden sollte, um sich abzureagieren, bevor es zur Eskalation oder zu Gewalt kommt.
Zum Ende der Vorlesung stellte Marvin viele Beispiele berühmter Autist:innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen vor und hebt hervor: „Sie alle haben auf ihre Weise die Menschheit geprägt, und ohne sie hätten wir nicht den heutigen Fortschritt und die heutigen Möglichkeiten.“ Ohne Nikola Tesla hätten wir beispielsweise keinen Wechselstrom. Marvin geht sogar so weit, dass er den „Homo autisticus“, ein Modell für eine Form der menschlichen Spezies, als potentiell neue bzw. höhere Evolutionsstufe des Menschen betrachtet. Wohlmöglich als augenzwinkerndes Gedankenspiel am Rande. Was er damit ausdrücken möchte, ist die Botschaft: „Wir brauchen anders denkende Menschen.“
Marvins Geschichte ist eine bewundernswerte. Eine mit Entwicklung und positivem Ausgang. Vom Nichtverstehen über sich selbst und dem täglichen Kampf als Kind gegen die Welt und gegen sich selbst, ist er ein junger Erwachsener geworden, der sogar mittlerweile seine eigenen Lehrer aufgeklärt und fortgebildet hat. Wie er selbst sagt, von jemandem, der mit 17 Menschen gehasst hat, zu jemandem, der an sich und seiner Kommunikation gearbeitet hat, weil er nun weiß, dass es seine Kommunikation war, die abstoßend und hasserfüllt wirkte. Er wollte sich selbst aktiv aus seiner „Opferrolle“ befreien. Er möchte sich nicht mit jenen umgeben, die pessimistisch denken und anderen die Schuld geben. Er ist ein ambitionierter Biologiestudent im Master, der von sich selbst behauptet, er habe sein Studium so exzellent und ehrgeizig durchgezogen, dass er noch immer keine Freundin habe: Erst muss er flirten und das menschliche „Paarungsverhalten“ lernen, wie er sagt. Er hat andere ziemlich ambitionierte Ziele, wie Professor werden, das Bildungssystem im Bereich Kommunikation revolutionieren und noch mehr über Autismus aufklären. Er will den Menschen in seinem Verhalten dekodieren, so wie er die menschliche Biologie dekodieren kann. Er weiß, dass sein Autismus für sein Studium und die genaue Laborarbeit Vorteile hat: Detailgenaue Wahrnehmung ist typisch für Autist:innen. Er hat vieles durchgemacht. Er hatte Krebs, er wurde gemobbt, ihm wurde gesagt, dass er endlich sterben gehen solle. Er wurde sechs Jahre lang seelisch von seinem Vater missbraucht, da er nur von sexuellen Dingen sprach und hat deshalb Angst und Abneigung gegenüber Geschlechtsverkehr. Eine spezifische Autismustherapie müsste er selbst bezahlen, was er ungerecht findet. Durch seinen Willen, an sich zu arbeiten, hat er sein Leben jedoch selbst in die Hand genommen und jetzt steht er selbstbewusst, reflektiert und älter vorne im Hörsaal, mit lauter und deutlicher Stimme, überzeugender Gestik und Vortragsweise – als nahbarer Mensch, der eine Stärke des Autistischseins verkörpert: Das Ungefiltertsein, das Echtsein, Authentischsein. Er berichtet ungeschönt und mutig von der Wahrheit, von der Realität und den Problemen, die sie mit sich bringt. Er zeigt Lösungswege auf und bringt Klarheit über eine bisher eher ungesehene und unterrepräsentierte Gruppe Menschen. Als Autist, der selbst über Autismus aufklärt, zeigt er, dass es eben leider immer noch ein häufiges Problem ist, dass zu wenig strukturelle Aufklärung existiert und Betroffene sich aus ihrem Leidensdruck und ihrer Biografie heraus selbst retten, beweisen und erklären müssen – selbst als Aufklärer vorangehen müssen, um einen Weg zu ebnen. Marvin tut genau das mit dieser wichtigen und erhellenden Vorlesung: Er beschreitet diesen Weg, auf dem er nun ganz er selbst ist. Diesen Weg, den er sich selbst gebahnt hat, auf der Suche nach Lösungen. Und beim Laufen, sagt er, kann er mit seinen eigenen Platten im Kopf ohne Gerät und ohne Kopfhörer Musik von Beethoven abspielen und den Tunnelblick aktivieren, um weniger Reize wahrzunehmen. Im Tunnel schaut er nach hinten in die Vergangenheit, aber am meisten optimistisch nach vorne und geradeaus. Ihm ist wichtig zu vermitteln: „Wer echte Veränderung will, sollte nicht nach links oder rechts gucken und sich beklagen, sondern selbst aktiv werden, nach vorne gehen und sich seiner Stimme und seines Verstandes bedienen. Vergleiche dich nicht, und du bist unendlich frei.“ Es stellt sich bei diesem Motto nur die Frage, ob strukturelle Ungleichheiten einfach so überwunden werden können oder ob man nicht auch Unterstützung, Zeit, Mittel und Privilegien braucht, um als Autist:in an sich zu arbeiten und sich der neurotypischen Welt anzupassen.
:Gastartikel von Maja Hoffmann
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