Um uns herum liegt noch Schnee, denn es ist der 11. Januar. Wobei es Schneematsch von gestern wohl etwas besser trifft. Ich habe mir extra Winterschuhe gekauft, weil ich denke, dass es glatt werden könnte oder wenigstens matschig. Sneaker wären da die falsche Entscheidung, richtig? Ich fühle mich komisch bei dem Gedanken, denn die Menschen früher im Lager haben sich wohl keine Gedanken um ihre Schuhe gemacht.
Es ist Freitag, halb neun am Hauptbahnhof Bochum. Eine kleine Gruppe Studierender der RUB mit ihrem Dozenten ist bereit für die Autofahrt zum Kriegsgefangenenlager Sandbostel hinter Bremen.
Für die Exkursion haben wir uns vor ein paar Wochen entschieden, aber jetzt frage ich mich doch, ob es die acht Stunden Fahrtweg heute wert sein wird. In unserem Seminar beschäftigen wir uns mit Lagern. In Sandbostel wollen wir die Überreste eines Kriegsgefangenenlagers aus dem Zweiten Weltkrieg sehen.
Wir sind alle etwas müde, aber auch gespannt und so teilen wir uns auf die Autos auf und fahren los. Auf der Fahrt sprechen wir über China, Geheimdienste und Radfahren. Neben Schnee fahren wir auch durch Regen und strahlende Sonne — kein Wunder, denn wir fahren mal eben so durch halb Deutschland.
Irgendwann biegen wir in eine Straße ein und ich schaue ein niedriges weißes Gebäude an. Es erinnert mich an eine Baracke und ich denke: Wir sind da. Dann stelle ich fest: Das ist nur ein Holzbaumarkt. Wir fahren noch um zwei weitere Ecken und parken erst dann auf dem Parkplatz der Gedenkstätte Sandbostel. Später erfahre ich, dass der Holzbaumarkt bereits auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlager steht. Das Gebäude sieht aus wie eine Baracke, weil es eben einmal eine war.
Vom Parkplatz aus kann ich das ganze Gelände sehen. Es ist kleiner als ich dachte. Ich sehe mich um und merke, dass sonst nichts um das Gelände herum ist, als Felder.
Das Gelände selbst ist eine große grüne Wiese voll mit Maulwurfshügeln. Weiter weg sehe ich sechs Holzbaracken mit grauen Dächern und kleinen Schornsteinen und auf der anderen Seite ein paar aus Stein. Alles ungewöhnlich schmale, lange und vor allem ausgeblichene Hütten. Am Ende des Geländes erkenne ich Windräder und riesige Tannen, direkt vor den Holzhütten steht ein großer kahler Baum. Irgendwie hatte ich erwartet, dass mich der Ort gleich etwas trübsinnig stimmen würde, aber so ist es nicht. Mit der Sonne ist mein erster Eindruck sogar eher, dass es hier eigentlich ganz friedlich aussieht, oder wenigstens neutral.
Wir gehen in das erste Gebäude und mein Blick fällt auf große leuchtende Tafeln mit jeder Menge Bildern und Text. Auch auf der Wand an der Seite stehen kleinere Textblöcke. Wir stehen vor einer kleinen Ausstellung über die Geschichte des Lagers.
Mit Andreas Ehresmann, dem Leiter der Gedenkstätte, und der Gedenkstättenpädagogin Mareike Kelzenberg finden wir uns erst mal in einem ganz normalen Seminarraum mit Flipchart und Beamer zusammen. Wir bekommen Wasser und Kaffee und berichten, dass uns besonders die Veränderung des Lagers über die Zeit hinweg interessiert. Andreas Ehresmann versichert, dass wir die Geschichte des Ortes bei genauem Hinsehen sehr gut auf dem Gelände erkennen könnten.
Die Atmosphäre ist entspannt und ich glaube langsam, dass wir genau die Antworten bekommen werden, die wir suchen.
Die Geschichte der Gedenkstätte ist im Grunde relativ typisch. Ende der 70er Jahre haben zwei
Lehrer begonnen, sich für ein Gedenken an diesem Ort einzusetzen und nach jeder Menge
Gegenwind aus der Umgebung und der Politik wurden immer mehr die Weichen gestellt, um
2013 dann dennoch die Gedenkstätte zu eröffnen. Der Gedenkstättenleiter spricht auch von der Wirkung des Ortes, der dunklen Aura der Ruinen und dem Dark Tourism, also Reisen an Orte, die von Schmerz, Verbrechen und Tod geprägt sind, wegen dem Besucher:innen die Gedenkstätte besuchen.
Dann startet die Führung. Wir gehen zurück in das Gebäude mit der Ausstellung.
Als ich zum zweiten Mal durch die Tür gehe, fällt mein Blick auf die Fotos von Gefangenen. Die
Bilder sollen als erstes ins Auge fallen, weil es um die Menschen gehen soll, die hier gewesen sind. Im Laufe der Führung bemerke ich, dass unser Fokus ein anderer ist, nämlich der Ort und seine Geschichte. Um etwas über die Menschen zu erfahren, hätten wir die Ausstellungen besuchen können, aber wir haben uns passend zu unserem Seminarthema für den Ort entschieden.
Ab Kriegsbeginn im September 1939 waren Gefangene hier untergebracht. Das beweist, dass es sich bei dem Zweiten Weltkrieg eben nicht um einen „Verteidigungskrieg“, sondern um einen zuvor geplanten Angriffskrieg der Nationalsozialisten handelt. Warum sonst hätte es bereits so früh Kriegsgefangenenlager gegeben?
Gebaut haben das Lager die Gefangenen selbst. Bis dahin haben sie in Zelten geschlafen. Nach ihrer Ankunft am Bahnhof mussten große Gruppen an Gefangenen erst einmal zum Lager laufen. Dort wurden sie durchsucht, mussten duschen und ihre Kleidung wurde desinfiziert. Bevor sie ihre Uniformen wieder bekommen haben, wurden auch noch die Kriegsabzeichen abgenommen. Das hat mich überrascht, nicht das mit den Abzeichen, sondern, dass sie ihre Kleidung wiederbekommen haben. Ist denn geplant, dass die Gefangenen überleben?
Die Gefangenen bekamen außerdem eine Personalkarte, auf der ihr Zivilberuf, ihr Gesundheitszustand sowie die Adressen von Angehörigen notiert wurden. Das wirft für mich dieselbe Frage auf und ich hake nach, wieso sich, so makaber es klingt, diese Mühe gemacht wurde.
Mareike Kelzenberg stößt bei mir einen Gedanken an, bei dem ich zugeben muss, dass ich genau mit dieser Einstellung in die Gedenkstätte gekommen bin. Sie erzählt, dass Besucher:innen immer wieder denken, dass Kriegsgefangenenlager wie Konzentrationslager sind. Stimmt, sie hat recht. Das habe ich auch angenommen. Aber es ist etwas anderes.
Kriegsgefangenenlager waren außerdem eine gewohnte Institution aus dem ersten Weltkrieg. Die Bevölkerung war also nicht besonders schockiert und die Bauern aus der Umgebung haben wie selbstverständlich Nahrung an das Lager verkauft.
Sie waren der Wehrmacht unterstellt und vor allem an die Genfer Konventionen gebunden. Das heißt, der Alltag der vielen amerikanischen, französischen und britischen Kriegsgefangenen sah anders aus. Primär ging es immer noch ums Arbeiten, aber außerhalb haben die Schutzmächte der verschiedenen Nationen und auch das Rote Kreuz Material in das Lager geschickt. So gab es im Lager Jazz, Theater, Sport, Bibliotheken und auch eine Kirche. Nach Genfer Konventionen war das alles zu dulden. Es kamen auch Vertreter:innen des Roten Kreuzes vorbei, die die Umstände in dem Lager überprüft haben. In der Regel wussten die Gefangenen also, dass sie irgendwann wieder freikommen. Die Gedenkstättenpädagogin erzählt später, dass ein jüdischer Kriegsgefangener aus Frankreich in einem deutschen Kriegsgefangenenlager oft sicherer war, als er als freier Bürger in der Heimat gewesen wäre. Wir sehen auch noch Fotos von einem Fußballspiel , das es in dem Lager gegeben hat und einem Kiosk mit einem Schachbrett im Angebot. Es waren über 50 Nationen in dem Lager, jedoch wurden sie weitgehend getrennt voneinander untergebracht.
Für sowjetische Gefangene sah das Ganze anders aus. Sie wurden in einem gesonderten Teil untergebracht und standen nicht unter dem Schutz der Genfer Konventionen. Der Grund für diesen Unterschied liegt in der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten, hinter der auch viele Angehörige der Wehrmacht standen.
Wir stehen immer noch in dem Ausstellungsraum und ich werde plötzlich stutzig, weil ich wieder an die Bilder von den Männern denken muss. Einer von ihnen trägt keine Uniform, sondern normale Kleidung und auf dem Modell vor mir ist ein Teil des Lagers als Zivilinternierungslager benannt.
Andreas Ehresmann berichtet davon, dass auch Zivilist:innen in dem Lager gefangen waren. Frauen waren dabei getrennt von Männern untergebracht. Er erzählt zum Beispiel von einem argentinischen Paar, das bei der Beschlagnahme eines Handelsschiffes gefangengenommen worden war. Dass hier auch Menschen gefangen waren, die eigentlich gar nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatten, zeigt deutlich, warum es eben ein WELT-krieg war. Er berichtet auch von Kritik von den Botschaften der Länder in Berlin nach dem Motto: Was machen unsere norwegischen Walfänger in einem Kriegsgefangenenlager? Mareike Kelzenberg erzählt, dass sich an diesem kleinen Ort die ganze Welt verdichtet hat. So bildlich habe ich das noch nie gesehen.
Das Zivilinternierungslager ist auch einer der Gründe, weshalb Sandbostel kein gewöhnliches
Kriegsgefangenenlager war. Ein anderer war die Ankunft von KZ-Häftlingen, nachdem die SS das Kommando über die Kriegsgefangenenlager erhielt und vor allem das, was sie ausgelöst hat. Die schlimme Situation der KZ-Häftlinge im Lager Sandbostel und das Distanzieren der Wehrmacht führte dazu, dass sich hohe gefangene Offiziere im Lager bei der Lagerführung meldeten und einforderten, dass etwas an der Situation der Häftlinge geändert wird. Die Lagerführung übergab daraufhin vor Kriegsende das Kommando im Lager an die Kriegsgefangenen und lies sie ohne eigene Unterstützung handeln. Die Gefangenen fingen an mit Fotos die Verbrechen an den KZ-Häftlingen zu dokumentieren und sicherten so Beweise. Uns wird gesagt, dass es sich bei den Beweisen vor allem um Fotos von Leichen handelt. Außerdem organisierten sie die Eindämmung der Krankheit Typhus im Lager.
Nach dem Krieg dient das Lager in Sandbostel auch als britisches Internierungslager, Gefängnis und Auffanglager für Jugendliche auf der Flucht aus der DDR. Später wird es als
Bundeswehrdepot und als Lager für Gegenstände in einem Gewerbegebiet genutzt. Es handelt sich also wirklich um ein Lager und alle Nutzungen haben ihre eigenen Spuren auf dem Gelände hinterlassen.
Genau diese Spuren sehen wir uns nun endlich an. Dazu gehen wir nach draußen, es ist ziemlich kalt und ich ziehe meine Mütze an. Das Wetter spielt mit und es bleibt trocken und hell.
Mein Kopf ist jetzt schon voll mit neuen Informationen und ich bin nur noch halb aufnahmefähig. Gut, dass wir uns jetzt lalles ansehen können. Wir gehen los.
Die erste Holzbaracke ist zusammengefallen und umgeben von trockenem braunen Gestrüpp.
Wir bleiben bei einer reparierten Baracke stehen. Über dem Eingang sind Überreste des
Schriftzugs „Hoffnung”. Andreas Ehresmann erklärt, dass das Überreste eines Filmsets sind, sie haben nichts mit dem originalen Lager zu tun. Der Ort hat seine Geschichte und die müssen wir lesen, Schicht für Schicht.
In der Baracke schauen sich alle neugierig um. Der Boden ist voll mit Staub und hier und da liegen Blätter, die von draußen hereingeflogen sind. Die Wände sind rau und es riecht nach Holz. Alles ist grau oder braun und in manchen Räumen ist der Boden brüchig. Es wirkt leblos, nicht wirklich wie eine Ruine, aber wie ein leer geräumtes Haus vor der Renovierung.
Wir gehen in einen Raum in dem neuartige Holzgestelle stehen. Sie sind die Gestelle von Hochbetten und der Gedenkstättenleiter erzählt, dass 30 Personen in einem Raum dieser Größe untergebracht waren, schon zu neunt ist es eng hier drin. Wenn es im Winter kalt war, haben die Häftlinge das Holz ihrer eigenen Betten als Brennstoff genutzt.
Wieder draußen sehen wir uns die Außenseite einer Baracke an. Es sind Farbreste zu sehen, die aus der Nachkriegszeit stammen. Heute sind die Häuser ausgeblichen. Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen und das soll auch sichtbar sein. Der Ort fühlt sich authentisch an.
Als wir über die Farben sprechen, fällt mir das erste Mal auf, wie grün es hier ist. Ich vermute, dass es den Rasen früher noch nicht gegeben hat und so ist es auch. Im Kriegsgefangenenlager war der Boden aus Sand, also aus Schlamm bei schlechtem Wetter.
Wir gehen zu den Steinhäusern, in denen früher die Sanitäranlagen waren. Noch heute sind Duschvorrichtungen in der Wand. Sie stammen aus der Zeit, in der das Gelände nach dem Krieg als Gefängnis genutzt wurde. Wir laufen immer weiter, an den Maulwurfshügeln vorbei und betreten den Speisesaal, so steht es jedenfalls über dem Eingang. In Wahrheit haben sich die Gefangenen das Essen hier nur abgeholt. Gegessen wurde in den Baracken.
Im Vorbeigehen sehe ich eine Schrift an der Wand, irgendetwas mit Schuhe ausziehen. Es passt nicht ins Bild, denn die Schrift sieht aus wie mit Filzstift an die Wand geschrieben und es ist keine alte Schrift. Ich frage nach und erfahre, dass es wahrscheinlich ein Scherz von Jugendlichen aus der Umgebung ist, die heimlich aufs Gelände gekommen sind und etwas an die Wand geschrieben haben. Oder es stammt aus der Nachkriegszeit, manche Fragen lassen sich nicht mit Sicherheit beantworten.
Wir kommen zur Lagerkirche und wieder bin ich ziemlich irritiert, denn in der Kirche finden heute auch Veranstaltungen der Gemeinde Sandbostel, sogar Hochzeiten statt. Ich versuche mir hier eine Hochzeit vorzustellen, direkt mit Blick auf das Kriegsgefangenenlager, aber es gelingt mir nicht wirklich.
Von der Kirche aus geht es wieder durch den Speisesaal und wir bleiben noch einmal draußen stehen, um uns etwas umzusehen. Meine Finger sind mittlerweile so kalt, dass ich es kaum noch schaffe, Notizen in mein Handy zu tippen. Wir waren nun zwei Stunden unterwegs und auch mein Kopf ist inzwischen aus. Außerdem habe ich Hunger.
An dieser Stelle endet passenderweise die Führung und wir einigen uns auf eine halbe Stunde Pause, bevor wir unsere restlichen Fragen im Seminarraum stellen wollen. Mit Sneakern hätte ich es wohl auch überstanden, denke ich.
Nach der Pause beschäftigt mich vor allem eine Frage: Was hat das alles mit heute zu tun?
Für Andreas Ehresmann regt der Ort dazu an, zu hinterfragen wer man selbst sein will vor dem Hintergrund von gefährlichen Systemen und Ideologien. Der Ort zeigt, was passiert, wenn Menschen ungleich behandelt werden.
Mareike Kelzenberg findet, der Besuch in der Gedenkstätte Sandbostel hilft dabei, das Privileg wertzuschätzen, in welcher Welt wir leben, mit Menschenrechten und Freiheiten.
Ich denke darüber nach, dass es Kriegsgefangenenlager noch heute gibt. Die
Gedenkstättenpädagogin erzählt, dass es in Zukunft vielleicht wieder Kriegsgefangenenlager in
Deutschland geben wird, falls der Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht vor unseren Landesgrenzen halt macht. Sie betont auch noch einmal, dass die Genfer Konventionen immer noch gelten.
Der Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann meint, dass Gedenkstätten in Zukunft und mit jeder kommenden Generation vermutlich immer stärker um Aufmerksamkeit ringen müssen, weil mit den Zeitzeugen auch der Bezug zum Thema verloren gehen kann.
Wir haben noch viele Fragen, aber wir können nicht ewig bleiben, denn auf uns warten noch über drei Stunden Fahrt zurück nach Bochum. Wir bedanken uns und schreiben noch ein paar Sätze in das Buch für Besucher:innen. Auf der Rückfahrt sprechen wir wieder über andere Themen, denn wir müssen alles erst mal wirken lassen. Trotzdem kreisen meine Gedanken weiter.
Als Letztes sprechen wir im Seminarraum nämlich auch über die Herausforderungen der Erinnerungsarbeit. Denn die AfD kämpft schon länger gegen Gedenkstätten in ganz Deutschland an. Gedenkstätten sind Teil der Geschichtspolitik in Deutschland. Mareike Kelzenberg meint, mit jeder Aussage der AfD legitimieren sie die Arbeit der Gedenkstätten. Ich finde, das ist ein starker Satz. Gedenkstätten sind wichtig, damit Geschichte nicht einfach umgedeutet werden kann. Auch hier in Sandbostel finden sich die Beweise für die Gewalt der Nationalsozialisten und für die Folgen von Rassismus. Ein ganz großer Beweis, ein ganzes Lager. Bald sind Wahlen und ich frage mich, ob diese riesengroßen Beweise denn dann wirklich einfach übersehen werden. An diesem kalten Freitagnachmittag auf dem Beifahrersitz hoffe ich einfach auf eine Zukunft, die nicht über die Trümmer von Gedenkstätten gebaut wird.
:Gastautorin Lena Dillenburg
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