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Der Literaturwissenschaftler Dr. Johannes Franzen von der Universität Siegen ist im Rahmen der Vorlesung „Schattenseiten der Literatur“ von Dr. Solvejg Nitzke an unserer Ruhr-Uni gewesen und hielt einen Gastvortrag zum Thema „Erzählen über Leichen –True Crime, Serienkiller-Reliquien und die Dignität des Faktualen“.

Warum konsumieren Menschen in ihrer freien Zeit Medien, die Gräueltaten und schweres menschliches Leid darstellen? Dieses Rätsel der Kulturwissenschaft steht im Mittelpunkt des Vortrags. Konkret benennt er dabei True Crime-Serien wie „Dahmer“ oder „The Serpent“, die die Geschichten von echten Serienkillern erzählen, welche in der Vergangenheit damit große Popularität erlangt haben. Allein Dahmer wurde nach seiner Erscheinung im Jahr 2022 zu einer der erfolgreichsten Serien auf Netflix. Die Erzählungen selbst seien schon problematisch, allerdings erhalten sie zusätzlich Prestige und das gehe teilweise so weit, dass Serien-Killer wie Dahmer eine riesige Fanbase erlangen, die sie für ihre Taten feiert oder bewundert. Sie werden zu „säkularen Heiligenfiguren“. Gegenstände wie zum Beispiel Dahmers Brille, die für 150.000 USD verkauft wurde, verwandeln sich in Reliquien. Auf Etsy findet man Sammelkarten und weitere „Fanartikel“, die nach Aussage ihrer Käufer „definetly a must have for serial killer junkies” sind.
Serial-Killer würden zu Figuren werden, die auf Nachfrage von der Produktionsindustrie hervorgerufen wären. Diese Popularität würde wiederum ethische und moralische Fragen aufwerfen, gerade dann, wenn es um die Verarbeitung und eine mögliche Retraumatisierung dieses erfahrenen Leids durch Angehörige und Opfer ginge. Hier kommt eine weitere Frage auf: Wer darf eine Geschichte überhaupt erzählen? Leitet sich das narrative Eigentumsrecht aus erlebtem Leid ab? Müssen Angehörige zuvor kontaktiert werden?
Genres, die sich mit True Crime beschäftigen, liege das Faktuale Erzählen zu Grunde. Das bezieht sich nach Franzen auf tatsächliche Personen und Handlungen – also auf Fakten, die so der Realität entsprungen sind. Faktualität würde somit „Wirklichkeitserzählungen“ meinen, die zum Beispiel in Form von Filmen oder Podcasts eine Geschichte wiedergeben. Fiktionales Erzählen hingegen würde den Erzählenden die Möglichkeit geben, freier zu agieren. Es sei dann eben Fiktion. Die Rezipient:innen könnten dann ebenfalls ihre ethischen Vorsätze zurückstellen und die beschriebene Gewalt „genießen“, da es sich nicht um tatsächliche Begebenheiten handelt. Ein Beispiel für eine bekannte fiktionales Serie sei „Hannibal Lecter“, welche unter anderem Kannibalismus thematisiert. Faktuales Erzählen würde jedoch einen Konflikt auslösen. Es entsteht eine Spannung, die sich darin widerspiegelt, dass die Erzähler einerseits die Verantwortung tragen, tatsächliche Begebenheiten darzustellen und andererseits eine gute Geschichte zu liefern.
Dr. Franzen wirft in diesem Kontext einen weiteren Begriff in den Raum: narrativer Hedonismus – also das Streben nach Sinneslust und -genuss durch narrative Formen. Die Menschen würden eine Faszination für das „Dunkle“ entwickeln, welche sich durch die nackte Schaulust und das Begehren von weiteren grausigen Erzählungen auszeichnet. Dieses Begehren entwickelt sich weiter zu einer Art Sucht, die ihre Fans zu „Junkies“ mache – man würde einfach nicht genug bekommen können. Auch Dark Tourism wird als Beispiel aufgeführt. In einer hamburger Kneipe könnten Leute so zum Beispiel den „Goldenen Handschuh“ von dem Serienmörder Fritz Honka bestaunen.
Serienkiller und ihre schrecklichen Taten würden vermarktet und True Crime würde zu einer Hochkultur aufgewertet werden. Die Inhalte passen sich an die Unterhaltungsmedien an und produzieren verschiedene Formate. So gibt es mittlerweile sogar True Crime-Magazine, hinter denen eine aufwendige Produktion steckt und die einen gewissen Sammelcharakter aufweisen. Aber auch Interviews mit Anwälten werden immer gängiger. Dabei stehe True Crime schon lange in Kritik. Die Vorwürfe: Ausbeutung sowie Herabwürdigung der Opfer und Fetischisierung der Taten und Täter:innen. Die realen Geschichten des Leids würden dafür ausgenutzt, das Publikum zu unterhalten – der informative Aspekt ginge dabei unter.

:Alina Nougmanov

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