Content Note : Kindheitstrauma, Abuse
Wir alle kennen es: Man sollte eigentlich für die anstehende Klausur lernen, doch ein innerer Konflikt entsteht: Auf der einen Seite das Pflichtbewusstsein oder die Nervosität, auf der anderen Seite die Lustorientierung, die keine Motivation für diese Aufgabe aufbringen kann. Was aber, wenn diese unterschiedlichen Seiten unserer Persönlichkeit nicht bloß innere Anteile wären, sondern eigenständige Personen, wie Ihr und Ich?
Sich mit anderen Personen einen Körper zu teilen, ist für viele schwer vorstellbar, jedoch für manche Menschen Alltag. Hierbei geht es um eine komplexe Traumafolgestörung, die als dissoziative Identitätsstörung (DIS) bekannt ist. Dabei handelt es sich nicht um einen simplen Mechanismus zur Vermeidung von Unlust oder Scheitern, wie im obigen Beispiel. Vielmehr geht es bei den betroffenen Personen um das Überleben in Extremsituationen. Ein Beispiel für ein solches dissoziatives Identitätssystem ist Bonnie Leben, besser bekannt als @diebonnies auf Instagram. Dort klärt das System, das aus mehreren Persönlichkeiten besteht, seit Jahren über diese Störung auf. Die Bonnies haben im Jahr 2024 außerdem ein Sachbuch mit dem Titel „Eine Bonnie kommt selten allein“ veröffentlicht, an dem mehrere der Persönlichkeiten mitwirkten.
Wie entsteht eine DIS?
Sätze wie „Oh, ich bin neidisch. Dann kannst du ja die Hausarbeit einfach von einer anderen Persönlichkeit schreiben lassen, wenn du keine Lust hast!“ hören die Bonnies immer wieder. Eine DIS ist jedoch weder „cool“ noch „praktisch“. Sie entsteht, weil in der frühen Kindheit immer wieder massive traumatische Erfahrungen gemacht wurden. Diese prägen die Opfer bis an ihr Lebensende. Bis zu einem Alter von etwa fünf Jahren hat ein Kind noch keine gefestigte Identität. Die Psyche kann deshalb auf die Spaltung der Persönlichkeit als Überlebensstrategie zurückgreifen: Ein einziges Bewusstsein könnte das Trauma nicht ertragen, weshalb unabhängige Persönlichkeiten im selben Körper erschaffen werden. Diese Persönlichkeiten erleben dann nur Teile des Traumas – oder gar nichts davon – und haben oft nur bruchstückhafte Erinnerungen an die traumatischen Ereignisse.
Es ist in mancherlei Hinsicht so, als würden Ihr und Ich alle im selben Körper wohnen; und das, obwohl wir uns womöglich gar nicht richtig kennen und nur wenig gemeinsam haben. Der Körper dient quasi als „WG“. Wissenschaftlich ist längst bewiesen, dass es sich bei der DIS nicht um Schauspielerei oder Wahnvorstellungen handelt. Die Persönlichkeiten sind eigenständige Wesen mit unterschiedlichen Geschlechtern, Altersgruppen, Interessen und sogar körperlichen Reaktionen. Manche tragen Namen wie „Tessa“, die zehn Jahre alt ist, andere haben ungewöhnliche Namen wie „46“, die sie sich selbst gegeben haben. Während einige Persönlichkeiten fröhlich und neugierig sind, gibt es auch stark traumatisierte, selbstschädigende Persönlichkeiten und sogar Säuglinge, die noch nicht einmal stehen können.
Nicht alle Persönlichkeiten haben dasselbe Ausmaß an Lebenszeit im Körper. Typisch für die DIS sind nämlich Amnesien: Erinnerungslücken, die auftreten, wenn eine Persönlichkeit die Kontrolle über den Körper verliert und eine andere, oft durch einen Trigger ausgelöst, übernimmt. In solchen Fällen wissen die Persönlichkeiten oft nicht, was die jeweils andere zuvor getan hat. Es kann jedoch auch vorkommen, dass sie vorherigen Ereignisse bruchstückhaft mitbekommen haben. Manche kennen sich zudem untereinander und können auch durch Gedanken miteinander kommunizieren. Andere gar nicht. Die Mechanismen und Dynamiken innerhalb eines Systems sind hochkomplex und unter Betroffenen verschieden.
Psyche und Körper
Besonders faszinierend finde ich die Erkenntnisse, die sich aus den Erfahrungen der Bonnies über die Fähigkeiten der menschlichen Psyche ableiten lassen. In Extremsituationen scheint die Psyche so erst ihr volles Potenzial zu entfalten. Beispielsweise gibt es Fälle, in denen ein Medikament nur in den Momenten wirkt, in welchen die Persönlichkeit den Körper steuert, die es auch eingenommen hat. Dies zeigt, wie eng Körper und Psyche miteinander verwoben sein können. Ein weiteres Beispiel dafür ist ebenso die unterschiedliche Sehstärke der Persönlichkeiten.
Die Psyche ist unsere ganze Realität
Einige Persönlichkeiten existieren zudem ausschließlich im sogenannten „Inneren“. Das bedeutet, sie haben niemals die Steuerung des Körpers übernommen oder aus ihm heraus agiert. Sie existieren nur im Bewusstsein — in der Vorstellung. Doch auch dort sind sie voll entwickelte Persönlichkeiten, die in imaginären Räumen leben und fühlen. Es zeigt, dass Realität im Grunde vor allem das ist, was unsere Psyche mit ihrer Imagination und Interpretation erschafft. Scheinbar braucht es noch nicht mal eine materielle Welt, um zu (er)leben. Dies wirft wiederum die Frage auf, inwieweit unsere Wahrnehmung der Welt überhaupt mit der materiellen Welt zusammenhängt. Der Gedanke setzt doch schon da an, wo Lichtwellen erst in unserem Gehirn zu dem Bild übersetzt werden, das wir sehen. Ohne ein Gehirn, das die Reize interpretiert, wären die Lichtreflexe noch kein Bild eines Objekts. Und ohne ein Ohr, das die Schallwellen aufnimmt und ein Gehirn, dass sie dann interpretiert, ertönt kein Geräusch. Es befinden sich eigentlich nur Schallwellen in der Luft. Dieses Buch hat mir deswegen vor allem philosophisch zu denken gegeben. Noch weniger konnte ich allerdings glauben, was die Bonnies über die Täter erzählten, die die Traumata verursachten. Diese bleiben bis heute unbehelligt und standen sogar in Kontakt mit einem ehemaligen Therapeuten des DIS-Systems. Ein Gerichtsprozess wurde nie eingeleitet, da sich die Bonnies dieser enormen emotionalen Belastung nicht aussetzen wollten.
Warum das Buch so lesenswert ist
Die Bonnies betonen mehrmals, wie präsent Trauma im Leben vieler Menschen ist – und wie wenig Aufmerksamkeit die Gesellschaft diesem Thema schenkt. Traumatische Erlebnisse passieren tagtäglich, doch die Betroffenen erhalten oft keine Hilfe. Das Buch hat mir dies bewusst gemacht und mich dadurch tief bewegt. Zwischendurch war das Lesen deswegen auch belastend. Wer dieses Buch liest, muss wissen, dass man nicht nur in die Abgründe der Psyche vordringt, sondern auch in die Abgründe unserer Lebensrealität. Es geht darum, sich darüber bewusst zu werden, dass Täter:innen unter uns leben, aber oft unerkannt bleiben. Dies hinterlässt mich mit tiefem Mitgefühl für alle Überlebenden von Traumata. Gleichzeitig ist mir klar, dass ich niemals nachvollziehen können werde, welche Schmerzen die Bonnies bereits ertragen mussten. Sie vermitteln dennoch viele Lebensweisheiten, die nicht nur für Menschen mit einer DIS relevant sind. Zuletzt hat das Buch mein Interesse an der menschlichen Psyche weiter bestärkt. Man könnte abschließend tatsächlich sagen, dieses Buch hat meine Sicht auf das Leben nachhaltig ein Stück weit verändert.
: Levinia Holtz
0 comments