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ChatGPT und andere KI-Bots sind längst in unseren Alltag eingezogen. Doch was, wenn KI sogar in die örtliche Kirche einzieht? Der KI-Jesus macht‘s (vielleicht bald) möglich…

Bereits in den 1960er Jahren wurde mit dem Chatbot ELIZA ein Grundstein für virtuelle Gesprächspartner gelegt. Die Leistungen dieser frühen KI-Systeme waren jedoch stark begrenzt und basierten vor allem auf der Wiederholung und Rekombination vorgefertigter Antworten. Im Vergleich dazu hat sich die Technologie enorm weiterentwickelt. Chatbots wie ChatGPT, das Ende 2022 auf den Markt kam, sind in der Lage, komplexe und nuancierte Dialoge zu führen, die nicht selten an echte menschliche Gespräche erinnern. Einen Schritt weiter, und das ist eine Untertreibung, ging nun ein Experiment in der Schweiz: Von August bis Oktober 2023 wurde in der Peterskapelle in Luzern ein sogenannter “KI-Jesus” installiert. Oh Lord!

Zwei Monate lang konnten Gläubige mit der künstlichen Intelligenz in Gestalt von Jesus (mehr zu seinem Aussehen weiter unten) interagieren. Insgesamt wurden in dieser Zeit rund 900 Gespräche geführt. Marco Schmid, Theologe der Peterskapelle, erklärt, dass die KI Fragen zu Themen wie Spiritualität, Liebe, Tod oder Krieg beantwortete. Diese Fragen reichten von „Was passiert nach dem Tod?“ bis hin zu schwierigen kirchlichen Themen wie Missbrauchsskandalen.
Also irgendwie hinterlässt das sofort einen bitteren Beigeschmack. Ja, KI und Spiritualität haben vielleicht eine Gemeinsamkeit: Sie haben keine unmittelbar sichtbare physische Form. Allerdings ist doch der Unterschied, dass es sich bei der KI auf den zweiten Blick um komplexe maschinelle Prozesse handelt. Und irgendwo ist sie definitiv materiell, allein in Hinblick auf die Hardware dahinter sogar in beinahe unvorstellbaren Ausmaß. Und das Wichtigste habe ich ja noch gar nicht gesagt: Sie ist von Menschen und nicht Gott programmiert worden. 

Ich sehe es ja ein. Die Idee hinter dem Projekt war es, Menschen einen niedrigschwelligen Zugang zu spirituellen Gesprächen zu ermöglichen. Auch jüngere Menschen sowie Angehörige anderer Glaubensrichtungen – Muslime, Buddhisten und sogar Atheisten – suchten das Gespräch mit dem KI-Jesus, was religiöses Verständnis und Toleranz fördern dürfte. Besonders bemerkenswert war das Feedback einer Person mit Autismus, die erklärte, dass sie Schwierigkeiten habe, mit anderen Menschen in einen Dialog zu treten, sich jedoch der KI problemlos öffnen konnte.

Das ist ja auch alles auch schön und gut. Dennoch steht KI grundsätzlich in der Kritik, mit Algorithmen Stereotype zu fördern und die immergleichen Ansichten zu reproduzieren. Es stellt sich doch die Frage, was es mit Gläubigen macht, wenn ein KI Jesus zukünftig mit Ansichten gefüttert wird, die unmöglich alle Strömungen des Christentums gleichzeitig berücksichtigen können. Zwischen dem beispielsweise orthodoxen und liberaleren Christentum liegen schließlich Welten. Braucht dann jede Gemeinde eine eigene KI? Das würde wiederum die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die eigene religiöse Perspektive hinterfragt wird. 

Zudem entwickelt sich Religion grundsätzlich weiter, sie kann adaptiv sein und neue kulturelle Entwicklungen in ihre eigenen Ansichten integrieren. Der KI-Jesus hingegen greift ausschließlich auf Informationen zurück, die ihm bereits eingespeist wurden. Anders als ein/e menschliche/r Theolog:in, der oder die durch persönliche Erfahrungen und Reflexion seine Einstellungen verändern und kann, bleibt die KI in ihrer Programmierung gefangen. Sie kann nicht eigenständig neue Erkenntnisse gewinnen oder auf Veränderungen in der Gesellschaft reagieren.

Zugegeben, diese vorläufige Einschätzung berücksichtigt nicht das Potenzial künftiger Entwicklungen in der KI-Forschung, die möglicherweise autonomeres Lernen ermöglichen könnten. Dennoch ist es bei einer so zentralen Glaubensfigur wie Jesus unabdingbar, auch die Risiken zu betrachten. Menschen könnten den KI-Jesus schließlich als eine Autorität ehren, die immer das letzte Wort hat. Er könnte Dogmatismus stärken und die Weiterentwicklung von Glaubensfragen behindern. Auch ethische Fragestellungen könnten zu einem ernsten Problem werden, wenn etwa die Antworten der KI nicht auf aktuellen theologischen Diskursen oder kulturellen Entwicklungen basieren, sondern auf veralteten Daten.

Besonders kritisch ist, wer die Verantwortung trägt, wenn die KI durch ihre Antworten zu Handlungen verleitet, die möglicherweise gegen Gesetze verstoßen. Wenn Menschen Bibelstellen als Rechtfertigung für problematische Entscheidungen heranziehen und diese durch den KI-Jesus bestätigt oder sogar hervorgebracht werden, ist die Frage nach der Haftung unabdingbar. Diejenigen, die Zugriff auf die Datenbank und Algorithmen haben, können durch gezielte Manipulation kontrollieren, welche Antworten Menschen erhalten – und damit auch, wie Glaubensinhalte zu verstehen sind. In den falschen Händen könnte der KI-Jesus somit als Werkzeug für Ideologien missbraucht werden.

Auch das Aussehen des KI-Jesus spiegelt eine tiefe Problematik wider. Historische Forschungen legen nahe, dass Jesus aufgrund seiner Herkunft aus dem Nahen Osten eine olivfarbene Haut, dunkle, krause Haare und eine robuste Statur gehabt haben müsste. Diese Merkmale wurden beispielsweise 2001 von dem Forensiker Richard Neave in Zusammenarbeit mit israelischen Archäologen in einer Rekonstruktion berücksichtigt. Doch der KI-Jesus in Luzern folgt nicht dieser historischen Rekonstruktion. Seine Hautfarbe erinnert eher an europäische Ethnien, was definitiv kritisch betrachtet werden muss. So stellt sich die Frage, warum man sich überhaupt für dieses Erscheinungsbild entschieden hat. Ein Mensch sollte doch in erster Linie als solcher gesehen werden, unabhängig seines Aussehens. Die historisch fehlerhafte Darstellung des für Christen wohl bedeutendsten Menschen könnte gerade deshalb subtil suggerieren, dass ein europäisches Aussehen ein universelles Ideal ist – während nicht-weiße Merkmale dadurch möglicherweise unbewusst abgewertet werden. So könnten bestehende Mythen – wie die Vorstellung eines weißen, vielleicht sogar blonden und blauäugigen Jesus – weiter verstärkt werden. Diese Mythen sind dabei häufig Produkte traditioneller Kunst und medialer Darstellungen, womöglich auch rassistischer Ideale der vergangenen Jahrhunderte. Konträr dazu könnte ein historisch genauer KI-Jesus einen wichtigen Beitrag dazu leisten, ethnische Vielfalt stärker zu repräsentieren und ihre Wertschätzung zu fördern.

: Levinia Holtz

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