Von neun Euro profitieren
Das 9 Euro-Ticket ist seit heute befahrbar und erleichtert vielen Menschen den Alltag.
„Für neun Euro nach Sylt!“, der Sturm auf die Insel, war die viralste Reaktion auf die Ankündigung des günstigen Fahrspaßes. Dabei wird vergessen, dass der ‚Spaß‘ dabei für manche gar keiner ist. Viele Personengruppen sind auf die Öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen, um im Alltag ihre Schulen, Universitäten, Arbeits- und Ausbildungsstelle, die Wohnorte ihrer Partner:innen, Freund:innen, ihre Familien, oder andere Städte zu erreichen. Dazu zählen Schüler:innen, Student:innen ohne fahrbaren Untersatz, Menschen mit Erkrankungen oder Behinderungen, die kein Auto, Motorrad oder auch Fahrrad fahren dürfen oder können, und auch Senior:innen, welche nicht mehr eigenständig fahren wollen oder können. Hinzu kommen außerdem Menschen, die sich weder einen Führerschein noch ein eigenes Transportmittel leisten können und natürlich auch jene, welche die öffentlichen Busse und Bahnen dem eigenen Fortbewegungsmittel vorziehen. Für viele von ihnen bedeutet das für drei Monate gültige Ticket eine enorme Entlastung. Allein das Senior:innen-Ticket für den Verkerhsverbund Rhein-Ruhr, das Bären-Ticket, kostet beispielsweise im Normalfall 92,90 Euro im Monat – bei einer durchschnittlichen Nettorente für Männer von 1.335 Euro und für Frauen von 900 Euro im Monat nicht gerade wenig. Aber auch für ärmere Bevölkerungsschichten realisiert das neun Euro Ticket vieles, für einige sicherlich auch den allerersten Urlaub. Mit Partner:in (und Kindern) für kleines Geld in schöne Ecken Deutschlands, das ist für sie kein Zeitvertreib oder eine ‚just for fun‘-Aktion, sondern ein Geschenk, welches die Brieftasche zur Zeit der Inflation enorm entlastet und neben einer günstigen Reise ermöglicht, das gesparte Geld wiederum in andere wichtige Einkäufe einfließen zu lassen.
:Rebecca Voeste
Sylt fürchtet sich vor Billigurlaubern
Die Nordseeinsel gilt eigentlich als Erholungsort für Gutbetuchte, doch mit dem 9€-Ticket soll sich das in diesem Jahr ändern.
Auch ohne die neu entstandene günstige Anreisemöglichkeit sind die Bahnen, die über den Hindenburgdamm zur beliebten Urlaubsinsel fahren, oft im Sommer gnadenlos überfüllt. Moritz Luft, Chef der kommunalen Marketinggesellschaft hatte deshalb kürzlich in einem Interview verlauten lassen, dass man auf Sylt keinesfalls „ein Biotop von Schönen und Reichen“ bewahren wolle, sondern lediglich für Jugend- und Schulgruppen und Familien „einen störungsfreien und entspannten Urlaub aufrechterhalten“ wolle. Die Angst vor einer Vielzahl an Tourist:innen, die es sonst eher nicht auf die Insel verschlagen würde, provozierte eben diese dazu einen Massenansturm zu planen.
Tausende verabreden sich über soziale Netzwerke, um mithilfe des 9€-Tickets den Sommerurlaub auf Sylt zu verbringen und dabei nebenbei den gewöhnlichen Urlaubern vor Ort die erhoffte Entspannung innerhalb der eigenen Kreise zu vermiesen. Eine Sprecherin der Linksjugend Solid begründete in einem Gastbeitrag in der ZEIT die Entwicklung so: „Sylt sollte kein Ort sein, an dem Wohlhabende so tun können, als gäbe es keine Armut.“ Außerdem gab sie zu bedenken: „Mit Sylt soll ein Stück Land zurückerobert werden, das eigentlich uns allen gehört. Und es sollen die Bedingungen verändert werden, die Sylt möglich machen.“ Der eskapistische Urlaub weg von Bevölkerungsschichten, die sich diesen normalerweise nicht leisten können, soll dieses Jahr zerstört werden.
Zwar ist nur die Anreise erschwinglich geworden, während die Preise für eine Unterkunft genauso horrende bleiben wie sonst, doch die Geschichte zeigt, dass dieser Umstand die Urlaubsmassen wohl nicht aufhalten wird. Mitte der Neunziger, kamen durch das neu eingeführte „Schönes-Wochenende-Ticket“ für 15 Mark ebenfalls plötzlich unzählige neue Urlauber nach Sylt, die denen, die dort ihr natürliches Habitat gestört sahen, ein Dorn im Auge waren. Die als „Billigtouristen“ beschimpften vergraulten wohl einige
der höherpreisig Urlaubenden.:Henry Klur
Schattenseiten des 9€ Tickets
Ab dem 01.06 ist das 9€ Ticket deutschlandweit nutzbar. Doch nicht alle begrüßen das neue Ticket.
Viele Menschen warten bereits gespannt auf den Juni. Das 9€ Ticket ist nicht nur eine Erleichterung für das Portemonnaie, sondern gleichzeitig auch eine Möglichkeit den öffentlichen Nahverkehr in Deutschland attraktiver zu gestalten. Doch die Freude teilen nicht alle. Expertenwarnen vor Chaos in den nächsten drei Monaten. Wer bereits mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, dem ist die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn nicht fremd und der zu erwartende „Ansturm“ wird die Situation nicht grade verbessern. Besonders in Großstädten, wie Berlin, Köln und Frankfurt ist die Sorge groß. Die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn ist unter anderem ein Grund dafür, dass viele das Angebot nicht wahrnehmen werden (können). Eine oder manchmal zwei Stunden Verspätung können sich nämlich weder Schüler:innen, Arbeitnehmende noch Eltern, die ihre Kinder in den Kindergarten bringen, leisten. Besorgt äußert sich auch Moritz Luft, der Geschäftsführer der Sylt Marketing, denn Sylt sei auf solch einen Ansturm nicht ausreichend vorbereitet. Zu erwarten ist, dass besonders die Strecken zu Urlaubsorten, wie über Berlin an die Ostsee oder von Hamburg nach Sylt beliebt sein werden. Das wird besonders den Pendler:innen zur Last fallen, die täglich auf die Strecken angewiesen sind, um zur Arbeit zu gelangen. Viel mehr Kapazitäten zu schaffen, ist jedoch nicht realistisch, laut den Verkehrsverbänden. Besorgniserregend erscheint für viele auch das erhöhte Personenaufkommen zu Zeiten der Corona-Pandemie. Die 3G-Regel im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) ist mit Inkrafttreten des neuen Bundesinfektionsschutzgesetzes entfallen. In Bus und Bahn muss lediglich eine Maske getragen werden. Viele Menschen fühlen sich nicht ausreichend geschützt. Besonders ältere Menschen, die von dem Angebot profitieren sollen, fürchten sich vor der Ansteckungsgefahr. Nichtsdestotrotz ist das 9€ Ticket ein Schritt in die richtige Richtung. Die Gefahren und Risiken des Tickets müssen in Kauf genommen werden, um die Schattenseiten des ÖPNV-Verkehrs zu erkennen und um diese zu verbessern.
:Miena Momandi
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