Bevor ich angefangen habe zu studieren, habe ich oft von der Uni geträumt. Der Campus: Ein Ort, an dem ich lernen und wachsen kann. Jeden Tag eine neue Herausforderung, jeden Tag eine Chance, ein Stückchen weiter erwachsen zu werden. Bis ich eines Tages aus meinem Traum erwacht bin und mit einem Schlag erwachsen wurde.
Es ist Sommer 2018, das Semester ist in vollem Gange und ich bin im vollen Hörsaal. Ich sitze in der zweiten Reihe, genau in der Mitte. Kurz vor Vorlesungsbeginn kommt er in den Hörsaal, springt über die Sitzreihe und setzt sich direkt neben mich. Da ist kein respektvoller Tisch Abstand, wie zwischen den anderen Studierenden. Er sitzt direkt neben mir und starrt mich von der Seite an. Die Vorlesung beginnt und ich höre angestrengt meiner Dozentin zu, die keine fünf Meter entfernt ist.
„Hey, hast du eigentlich einen Freund?“, fragt er mich mitten während der Veranstaltung. „Ja, wieso?“, frage ich zurück. Mir ist die Situation unangenehm. „Ich finde dich nämlich sexuell sehr attraktiv“, fährt er fort. „Ich würde dich heute Abend gerne zu meinem Tantra-Workshop einladen.“ Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, ich rutsche auf meinem Sitz herum und schaue zum Ausgang, aber wenn ich jetzt aufstehe und wegrenne, müssen mindestens 20 Leute ihre Sachen einpacken, ihre Tische hochklappen und für mich aufstehen. Ich will die Vorlesung nicht stören, und was soll mir schon mittwochs morgens mitten im Hörsaal passieren, oder? Als die Vorlesung irgendwann endlich endet, nehme ich meine Sachen und gehe, aber er kommt mir hinterher. Er folgt mir über den gesamten Campus, lädt mich zu weiteren Workshops ein und macht mir fragwürdige Komplimente. Als ich vor meinem nächsten Gebäude stehe und reingehen will, nimmt er meine Hand und hält sie fest, ohne zu fragen, ohne vor meinem Zögern zurückzuschrecken. Er hält sie so lange fest, bis ich es schaffe, ihm in die Augen zu sehen. Vielleicht hat er meine Angst gesehen, mein Unbehagen, aber endlich sagt er „schon besser“ und lässt meine Hand los.
Seit diesem Sommer schleiche ich mich als Letzte in den Hörsaal. Ich sitze in der hintersten Reihe auf dem äußersten Platz, damit ich jederzeit aufstehen und gehen kann, wenn etwas passiert, mir jemand suspekt ist oder ich mich in einer Situation unwohl fühle. Über die Flure gehe ich nur noch in Begleitung meiner Freunde. An diesem Tag ist die Uni zu einem Ort geworden, an dem ich Angst vor Übergriffen habe. Ein Ort, an dem ich mir Schlüssel zwischen die Finger stecke, wenn ich die Treppe ins dunkle Parkhaus hinunter gehe, ein Ort, an dem ich Ausschau nach Bedrohung halte und an dem ich lieber fünf Etagen zu Fuß laufe, als einen Aufzug mit einem fremden Mann zu teilen.
Bis heute fühle ich mich in Hörsälen nicht sicher. Ich kann mich nicht mitten rein setzen, ohne einen ersichtlichen Fluchtweg zu haben. Der Campus ist kein sicherer Ort, wenn wir in Anwesenheit hunderter Studierenden und einer Dozentin in Rufweite schamlos belästigt werden.
:Luisa Grote
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