Mit „Last Night in Soho“ schafft Edgar Wright einen Unterhaltungsfilm, der zwischen den Genres springt.
Der britische Filmregisseur Edgar Wright konnte sich in den vergangenen 20 Jahren vor allem durch Komödien wie seine „Cornetto-Trilogie“ einen Namen machen. Schon immer spielte er dabei aber gerne mit Genrevermischungen, wie bei der Zombieüberzeichnung „Shawn of the Dead“ oder zuletzt bei seinem musikalisch durchgetakteten „Baby Driver“. Auch bei seinem neuesten Werk wird die anfängliche Leichtigkeit, die wiedermals von einem erlesenen Soundtrack untermalt wird, einer bisher von Wright unbekannten ernsthaften Düsternis überlagert. Die Protagonistin Ellie, verkörpert von Thomasin McKenzie, lebt auf dem Land und träumt davon ihr Talent als
Designerin für ein Modestudium in London zu nutzen. Als ihr das gelingt, fährt sie hoffnungsvoll in die große Stadt, wo sie allerdings schon bald von den abgehärteten Kommiliton:innen aus der Gegend wegen ihrer Naivität verachtet wird. Zudem ist sie durch den einstigen Selbstmord ihrer Mutter traumatisiert und wünscht sich sehnsüchtig in die goldenen Zeiten der Metropole zurück, in denen ihre Großmutter ihre Jugend verbrachte.
Ellie hört ausschließlich alte Musik und liebt die Kleidung und Lebensweise der Sechzigerjahre. Damit verkörpert sie kein untypisches Bild, denn das Gefühl, in einer falschen Zeit geboren zu sein, ergreift in der Postmoderne immer mehr junge Menschen. Schon bald soll sich ihr Wunsch quasi erfüllen, denn jede Nacht findet sie sich unerklärlich in der Gestalt der schönen Sängerin Sandie (Anya Taylor-Joy) im Soho der Sechziger. Ellie bleibt dabei nur Beobachterin, doch identifiziert sich stark mit der selbstbewussten Sandie und lässt davon auch ihr waches Leben beeinflussen. Sie schneidert Sandies Kleid, kopiert ihre Frisur und freut sich fortan so sehr aufs Einschlafen, dass sie sich nicht mehr für ihre Realität interessiert. Als ihr ein wahnsinnig netter Kommilitone unaufdringliche Avancen macht, will sie lieber früh schlafen gehen, um Sandies Liebhaber anzuschmachten. Die Optik des alten Sohos scheint immer etwas zu rein, zu golden zu sein, als wäre die ganze Stadt einmal mit Photoshop bearbeitet worden. Diese Ästhetik spiegelt die Unwirklichkeit von Ellies Träumen wider, die zwar auf realen Ereignissen beruhen, jedoch keinesfalls immer zuverlässig sind. Mit der Zeit wird auffällig, wie patriarchal und weiß dominiert die Vergangenheit war, denn der Umgang des männlichen Geschlechts mit Frauen wird an jeder Ecke offen problematisiert. Die Gegenwart hat sich, was das angeht, um einiges verbessert, doch besonders nachts bleibt die (nicht nur) psychische Gewalt, die von männlicher Aufdringlichkeit ausgehen kann, omnipräsent.
Die nostalgische Verklärung vergangener Zeiten sorgt dafür, dass negative Seiten ausgeblendet werden und das Bild der „guten alten Zeit“ entsteht. Wright zeigt in diesem Film, dass abseits des Rampenlichts in den Sechzigerjahren mindestens genauso viel Schreckliches vor sich ging wie heute. Die große Langeweile und Leidenschaftslosigkeit sowie das Gefühl, dass keine neue Geschichte mehr geschrieben werden kann, ist in unseren Generationen weit verbreitet. Mit der Retromanie, die auch durch die Popkultur bedient wird, können wir uns in Epochen zurückdenken, die uns aufregender und lebenswerter erscheinen, ohne ihre harte Realität wirklich am eigenen Leib spüren zu müssen. Durch seine Ästhetik und Unvorhersehbarkeit lockt „Last Night in Soho“ auch jene ins Kino, die einfach nur mal wieder in der Vergangenheit schwelgen wollen, so wie es ein „La La Land“ zuließ. Doch dieser Film entreißt uns unsere Träume und ersetzt sie durch die unromantischere Wirklichkeit, ohne dabei jegliche Inspiration aus der Vergangenheit zu verteufeln. Wir dürfen uns gerne modisch von alten Zeiten beeinflussen lassen, aber leben müssen wir im Hier und Jetzt.
:Henry Klur
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