Kommentar. Populärer Deutschrap lebt von einem Realness-Narrativ, das auch Haftbefehl bestätigt, doch negiert er auf seinem neuen Album das damit einhergehende Versprechen.
Schon lange werden die deutschen Charts von deutschsprachigem Rap frequentiert, wofür vor allem eine sehr junge Zielgruppe verantwortlich ist, die dank der Mainstream-Rapper:innen mittlerweile sämtliche Luxus-Modemarken aufzählen kann. Capital Bra und Co. säuseln durch die Lautsprecher in Shisha-Bars und auf Abi-Partys auf gefälligen Beats, durch Auto-Tune kaum noch zu verstehen, etwas von Aventador oder Louis Vuitton und schaffen so ein modernes Bild, das von Erfolg und Stil zeugen soll. Währenddessen gelten jene als besonders „real“, die wie Gzuz und Bonez MC von einer Vergangenheit im Drogenmilieu berichten und immer wieder die gleiche Geschichte erzählen à la „ich komm von ganz unten, aber dank harter Arbeit bin ich jetzt ganz oben“. Nicht grundlos ist der brasilianische Fußballer Neymar so ein beliebtes Hip-Hop-Motiv, denn einst kickte er in den Favelas von Rio de Janeiro und ist heute der teuerste Spieler der Welt.
All das soll Jugendlichen krampfhaft weiter vor Augen führen, dass es jede:r schaffen kann, wenn man sich nur richtig anstrengt und über die nötige Prise Talent verfügt. Diese Vorbildfunktion, die extrem auf Materialismus ausgelegt ist, indem man jungen Menschen die Rolex vor die Nase hält und so tut, als würde erst eine teure Uhr das Leben lebenswert machen, ist penetranter denn je. Haftbefehl erklärt auf „Das schwarze Album“, warum dieses Bild so krampfhaft aufrechterhalten wird, und bringt es dabei direkt zum Einsturz. In „Kaputte Aufzüge“ findet der Offenbacher eine perfekte Metapher für das gescheiterte Aufstiegsversprechen, das Jugendlichen aus den Plattenbausiedlungen mit maroder Infrastruktur einst den schnellen Weg nach oben zeigen sollte. „Dort wo sie leben, riecht´s nach Orchideen / Doktoren-Gegend, wo Professoren leben / Dort wo wir leben, will jeder fort von hier / Doch der Tank vom Ford Mondeo bringt uns nicht fort von hier“, so beschreibt Haftbefehl die auseinandergehenden Lebensrealitäten innerhalb derselben Stadt. Anstatt stolz auf seine Dealer-Vergangenheit zu sein, beschuldigt Aykut Anhan, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, das System, das ihm keine Alternative geboten hat: „Umso größer die Sünden, desto tiefer das Loch / Suizid, keine Hoffnung, ich bin im siebten Stock / Die Schule abgebrochen, keiner gibt mir einen Job / Außer Heroin aus Laos oder Schiefer am Block“.
Gerade von einem etablierten Musiker wie Haftbefehl wiegen solche Verse schwer, denn seine Tracks reihen sich zwischen die betäubenden Songs der Modus Mio-Playlist ein und schaffen ein Gegenbild. Er äußert scharfe Kritik an dieser Betäubung und der Entpolitisierung der Jugend, die ausschließlich auf den eigenen individuellen Erfolg getrimmt wird: „Während Kinder verhungern, sind wir Pelz am Tragen / Geld am Sparen, Benz am Fahren / Wie gesagt, wir kommen dem Ende nah / Der Zug ist abgefahren und du, jetzt denke nach“. Es folgt keine hoffnungsvolle Pointe, kein Twist, kein Happy End. Anhan sieht eine düstere Gegenwart und blickt einer noch düstereren Zukunft entgegen: „Kein positives Signal in weiter Ferne / Kein Silberstreifen am Horizont in Sicht / Sie predigen, doch jedes zweite Wort / Das aus ihrem Mund kommt ist Gift / Wir haben die Kontrolle verloren / Ignorieren die Realität sonst nichts“. Statt einer „Haftbefehl-Straße“ hätte der Rapper lieber eine „Aykut-Anhan-Allee“, wenn man schon eine Straße nach ihm benennen sollte, wie er in einem Interview mitteilte. Schließlich sei man hier im Land der Dichter und Denker; Aykut Anhan ist mit Sicherheit einer von ihnen.
:Henry Klur
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