Kommentar. Das EuGH-Gutachten zu Kopftuchverboten am Arbeitsplatz ist ein Skandal — und ein Befreiungsschlag. Denn es zeigt offen, worum es wirklich geht.
Pünktlich zum Weltfrauenkampftag hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine wichtige Empfehlung veröffentlicht: Es ging um die Frage, ob sogenannte Arbeitgeber:innen ihren Angestellten vorschreiben dürfen, ob diese am Arbeitsplatz religiöse Symbole tragen dürfen oder nicht. Die Debatte um angebliche „Neutralität“ läuft bereits seit Jahren, und sie ist eine Farce. Denn obwohl immer wieder auch Kreuze an den Wänden oder um den Hals angesprochen werden und Medien ihre Artikel zum Thema gerne mit einer jüdischen Kippa schmücken, um zu suggerieren, es gehe wirklich um alle religiösen Symbole, um alle Religionen und alle Menschen gleichermaßen, ist doch allen bewusst, dass es in Wahrheit um das Kopftuch geht und es immer nur darum ging. Und damit trifft diese Debatte in aller erster Linie eine bestimmte Gesellschaftsgruppe, nämlich Frauen, und zwar muslimische.
Die „Kopftuchdebatten“ sind älter als die aktuellen um angebliche Neutralität. In Deutschland kamen sie Mitte der 2000er Jahre auf. Damals ging es unter anderem um Schüler:innen, die von ihren Eltern vom Schwimmunterricht abgemeldet wurden — absolute Einzelfälle, die aber von den Medien und der Politik zu einem Skandal aufgebläht wurden, sodass man den Eindruck gewinnen konnte, es beträfe Dutzende, wenn nicht hunderte oder gar tausende Mädchen in Deutschland, statt einer Handvoll. Aber auch damals ging es vor allem auch um Lehrer:innen und Jurist:innen. Denen sprach man ab, sie könnten „neutral“ sein und unterstellte ihnen, sie würden wegen eines Tuchs auf dem Kopf Schüler:innen oder Angeklagte unterschiedlich behandeln oder nicht zum Grundgesetz stehen können. Aus diesen Jahren stammt auch der Trend, den wir bürgerlichen „Feministinnen“ wie Alice Schwarzer zu verdanken haben, wonach Frauen mit Kopftuch unterdrückt und zugleich Täterinnen seien. Die Konsequenz besteht laut Schwarzer und ihresgleichen darin, Kopftuchträgerinnen möglichst viele Steine in den Weg zu legen, was Bildung und Beruf angeht.
Seit den 2000ern hat sich ein wenig geändert. Vor allem sind die antimuslimischen Kampagnen differenzierter geworden: Es wird unterschieden zwischen bösen Muslim:innen („Salafisten“) und guten, die in ihrem Auftreten angepasst und unauffällig sind und am besten lauthals in den Chor einstimmen, der ihren unangepassten Glaubensgeschwistern Rückständigkeit, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus etc. attestiert. Und dann gibt es noch die große Masse an Muslim:innen, die zwar nicht ganz so böse sind, aber irgendwie halt doch. Denen kommt man mittlerweile mittels geschickterer Angriffe bei, etwa mit Neutralitätsdiskursen, wie in Deutschland oder derzeit vor allem in Frankreich, wo sich der Laizismus schon lange in erster Linie gegen Muslim:innen richtet, denen in kolonialer Manier „Separatismus“ vorgeworfen und deren Frauen in der Öffentlichkeit entschleiert werden. Da dabei wieder einmal vor allem Frauen ins Visier genommen werden, sind diese Angriffe nicht nur rassistisch, sondern auch sexistisch. Mit den faktischen Berufsverboten, die Verfechter:innen von Kopftuchverboten anstreben, greifen sie das Fundament jeder weiblichen Emanzipation an, nämlich die ökonomische Selbstständigkeit der Frau. Ihr Rassismus macht damit „Feminist:innen“ vom Schlage Alice Schwarzers zu Kompliz:innen von Frauenhassern und selbst zu Sexist:innen.
Das EuGH-Gutachten hat jede Behauptung, es gehe um alle Religionen, Lügen gestraft: Die Richter:innen verkündeten, dass sogenannte Arbeitgeber:innen „größere“ Symbole durchaus verbieten dürften, explizit waren damit Kopftücher gemeint, während zugleich ausdrücklich Kreuzketten ausgenommen wurden. Insofern handelt es sich in gewisser Weise um einen Befreiungsschlag, der ehrlicher ist, als das Gesetz, das wenige Tage später vom Landtag NRW mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD angenommen wurde, wonach Justizbedienstete keine religiösen Symbole mehr tragen dürfen. Es ist für alle ersichtlich: es geht um Frauen und es geht um’s Kopftuch. Es geht um Sexismus und um Rassismus. Der EuGH hat seine Meinung dargelegt, ein endgültiges Urteil steht noch aus. Die Kampagnen gegen Muslim:innen gehen indes weiter. Nun ist es an uns, den Mund zu halten — oder den Betroffenen beizustehen, dieses Gutachten als das, was es ist, nämlich eine juristisch verbrämte Kampfansage gegen das Recht von Frauen auf Arbeit und Religionsfreiheit, zurückzuweisen und Widerstand gegen seine Auswirkungen zu leisten.
:Leon Wystrychowski
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