Musik. Die Musikindustrie steht nicht still, auch nicht während der Corona-Pandemie. Doch welche moralischen und auch Marketing-technischen Abwägungen sollten dabei getroffen werden?
In unsicheren Zeiten, in denen man auch noch viel Zeit in den eigenen vier Wänden verbringt, freut man sich wahrscheinlich erst mal über jedes bisschen an neuen, interessanten Medien, die man konsumieren kann. Die Popularität von Tiger King in den ersten Wochen der Isolation hat eindrücklich gezeigt, dass viele Menschen für alles dankbar sind, was sie von der aktuellen Realität ablenkt. Eskapismus liegt noch mehr im Trend als je zuvor. Doch stellen sich dabei auch Fragen. Denn wir durchleben nicht nur eine Pandemie, die gewisse, meist sowieso benachteiligte Gruppen in der Gesellschaft besonders hart trifft, sondern auch vielerorts erneut aufflammende soziale Unruhen, besonders seit den Protesten nach dem Mord an George Floyd durch Polizisten in den USA. Ist das also der richtige Zeitpunkt, um ein Album oder eine Serie zu veröffentlichen?
Manche Alben treffen natürlich genau den Puls der Zeit. So war es vollkommen einleuchtend, dass Run The Jewels ihr Album RTJ4 (:bsz 1253) nicht nur wie geplant veröffentlichten, sondern den Release sogar vorverlegten. Denn sie zeigten Track für Track sehr deutlich, dass die Probleme seit langem köcheln, und der aktuelle Ausbruch abzusehen war. Ebenso sinnig erschien, dass Charli XCX im Mai ihr Album „How I‘m feeling now“ rausbrachte, welches ihren Umgang mit der Isolation und den Auswirkungen auf ihr Leben und die Beziehung zu ihrem Partner behandelte. Doch nicht jedes Album hat den Anspruch, aktuelle Themen zu behandeln und zu reflektieren. Bezüglich des immer wieder verschobenen Releases des Remix-Albums seiner Band 100 gecs stellte Dylan Brady, Musiker und Produzent, in einem Interview mit EDM/Dubstep-Musiker Skrillex eine ganz klare Frage: „Who wants to hear this fucking remix album right now?“ Die Frage wirkt durchaus berechtigt, denn für viele mag Musik, welche keinen Bezug zur aktuellen Situation hat, genau das sein, was sie momentan am meisten brauchen. Doch für Menschen, die direkt betroffen sind, könnte es verständlicherweise befremdlich wirken, wenn Musiker:innen und die Industrie einfach weiter machen wie zuvor. Ein seichtes Folk-Album oder eine abgedrehte Hyperpop LP ist nur dann eine willkommene Ablenkung, wenn man sowieso eine gewisse Distanz zu den Problemen hat, die die Welt beschäftigen.
Musiker:innen leben jedoch auch von ihrer Musik, und nicht jede:r ist so komfortabel abgesichert, dass man einen Album-Release einfach verschieben kann, ohne, dass es direkte Konsequenzen für die Existenz hat. So wenig heutzutage noch an Musikverkäufen verdient wird, und so fragwürdig die Geschäftspraktiken der Musikindustrie sind, darf man das nicht aus dem Auge verlieren. Ein ganz anderer Aspekt ist auch der künstlerische Anspruch ans eigene Werk. Wirklich wahrscheinlich scheint es nicht, dass ein Album, welches während des wohl einschneidendsten Ereignisses der letzten 20 Jahre veröffentlicht wird und völlig losgelöst von diesen Ereignissen ist, in einigen Jahrzehnten noch Platz in der öffentlichen Wahrnehmung hat. Meist sind es die Medien, die den Zeitgeist widerspiegeln und etwas über Menschen und ihren Umgang mit ihrer Situation sagen, die auch in der nächsten Generation von
Bedeutung sind.
:Jan-Krischan Spohr
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