Rezension. Mit ihrem neuen Album führen uns die Urgesteine in alter Stärke der Industrial-Musik durch ihren Hinterhof und die Geschichte.
Wenn ein Album von einer mittlerweile 40 Jahre alten Band Alles in Allem heißt und das erste mit selbst geschriebenen Songs seit 13 Jahren ist, kann sich der Gedanke entwickeln, dass dies nun ein Abschied ist. Ein Abschied und großes Resümee, vielleicht ein Rückblick oder ein mit den letzten kreativen Kräften zustande gebrachtes Kind der Mühe, damit die Diskographie nicht ins Leere läuft. Vielleicht ist Alles in Allem dieses Album. Mehr denn je ist es gespickt mit textlichen Selbstreferenzen und damit auch neuen Möglichkeiten, alte Songs neu zu erschließen.
Doch viel mehr ist Alles in Allem ein Album über Berlin. Sei es im Kleinen – der Text für den titelgebenden Song erschloss sich aus assoziativen Bildern, die durch den abblätternden Bodenbelag des langen Außengangs des Tonstudios entstanden sind – oder auch im Großen, wie nicht zuletzt durch Songtitel wie „Grazer Damm“, „Wedding“, „Tempelhof“ oder „Am Landwehrkanal“ deutlich wird. Die Lieder ergründen dabei die gesellschaftlichen Räume, Narben und Geschichten der Stadt. Auf dem einleitenden „Ten Grand Goldie“, ein kraftvoller, durch einen treibenden Beat fesselnder Song, wird das ständig umtriebige, nie innehaltende Wesen des (wirtschafts-)liberalen Berlins angedeutet. „Am Landwehrkanal“ ist ein ungewöhnlich schunkeliges Lied, das Rosa Luxemburg gedenkt, welche nach ihrer Ermordung in den Kanal geworfen wurde.
Berlin hat die Band seit jeher gezeichnet. Seit den Anfängen im Westberlin der 80er Jahre, wühlend in Schrotthaufen um aus Rohren, Blechen, Bohrmaschinen, Kanistern, Tonnen und allem möglichen weggeworfenen, für nutzlos befundenem Müll neue mögliche Klänge heraus zu experimentieren, hat sich die Band stark gewandelt. Von diesen Anfängen, die in ihrem gegenkulturellen Mut mehr radikaler, ungestümer Lärm als Musik waren, sind Bruchstücke vorhanden. Diese sind auch weiterhin auf Alles in Allem geblieben – die Band hat nie aufgehört mit unkonventionellen Instrumenten zu experimentieren. Doch mit dem „Erfahrungswert, was man noch alles machen kann“, wie es Sänger Blixa Bargeld einst ausdrückte, kehrte eine „verfeinerte Brachialität“ ein. Beispielsweise dienen Reißverschlusstaschen aus Kunststoff, wie man sie häufig bei flüchtenden Personen sieht, als Schlag- und Taktgebeinstrument auf dem danach benannten Lied „Taschen“. Der Song ist ein Höhepunkt eines insgesamt vielschichtigen und mitreißenden Albums. Ein gänsehauterregender Moment mit einer tiefgreifenden Wucht, erzeugt durch ein Streichensemble, eindringliche Basstöne und den leichten, ruhigen Gesang Blixas. Mit Textzeilen wie „Was wir in deinen Träumen suchen? / Wir suchen nichts, wir warten / Zwischen uns und dir / Wälzt die Wogen ungeheuer / Ein gefräßiges Ungetüm“ und „Da wo wir landen, wenn wir landen, Land gewinnen / Allein, zu zweit, zu Vielen / Wie erwartet, wieder warten“ erschließt sich der Bezug von Instrumentalisierung und Flucht, bei der das Leben aus den Taschen heraus eine permanente Zwischenwelt, ein ständiges Warten ergibt.
Alles in Allem ist ein sowohl musikalisch wie auch textlich vielschichtiges Album, das nur wenige Fehlgriffe macht. Sollte es ein finales Werk sein, was nicht zu hoffen ist, dann ist es ein fantastischer Ausklang einer Band, die fast im Alleingang ein ganzes Genre begründet hat.
:Stefan Moll
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