Bild: Kolonialismus: Auch Deutschland hat zum Ende des 19. Jahrhunderts Besitzansprüche auf Gebiete Afrikas gelegt., Entkolonialisierung Deutschlands Symbolbild

Kolonialismus. Vielerorts werden derzeit die rassistischen und kolonialen Geschichten von Gesellschaften hinterfragt.

Angefangen mit der amerikanischen Zivilrechtsbewegung spielten sich viele Kämpfe zur Gleichberechtigung von Afroamerikaner*innen und Afrodeutschen gleichzeitig ab. Manchmal mit ein wenig zeitlicher Versetzung, zum Beispiel bei kulturellen Großevents wie der Repräsentation von Schwarzen Personen in Film und Fernsehen sowie Aufmerksamkeit rund um Konzepte wie Mikroaggressionen oder institutionelle Diskriminierung und manchmal parallel, wie bei den aktuellen Debatten zu einer neuen Geschichtsinterpretation.

Vergangenen August veröffentlichte das New York Times Magazine das „1619 Project“ – eine monumentale Neuinterpretation der amerikanischen Geschichte zum vierhundertsten Jahrestag der ersten afrikanischen Sklaven in Virgina. Das zentrale Argument der Artikelreihe ist so einfach wie kontrovers: Die nationale Entwicklung der Vereinigten Staaten fußt nicht auf dem 4. Juli 1776 – dem Tag der Verkündung der Unabhängigkeitserklärung – sondern auf dem August 1619. Das amerikanische System der Sklaverei habe so wesentliche Teile des modernen, westlichen Kapitalismus geprägt. Beispielsweise die Beurteilung von Arbeiter*innen anhand von Effizienzquoten. Aber auch erste Formen des „Outsourcings“, wie die Handelsbeziehungen zwischen England und den USA, aus denen Importe aufgrund der Sklaverei billig waren, entstanden durch die amerikanische Sklaverei. Aber auch, dass die Umsetzung demokratischer Werte erst durch die Schwarze Bevölkerung verwirklicht wurde, da diese für die Werte kämpften, die von den Gründervätern nicht umgesetzt wurden. Das 1619-Project ist heiß diskutiert – unter Historiker*innen wie in der breiten Öffentlichkeit.

Eine ähnliche Debatte findet derzeit auch in Deutschland statt. Wenn auch nicht ganz so fundamental, stellt sie trotzdem ein fehlendes Geschichtsverständnis vieler Deutschen infrage, nämlich das der eigenen kolonialen Geschichte. Denn obwohl Deutschland neben Staaten wie Frankreich oder dem Vereinigten Königreich nicht häufig als Kolonialstaat gesehen wird, sind die Auswirkungen der kolonialen Bestrebungen Ende des 19. Jahrhunderts und der darauffolgenden Migrationsbewegungen auch heute noch tief in unserer Gesellschaft sichtbar.
Deshalb starteten die Organisationen Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. (ISD), Each One Teach One e.V. (EOTO) und Berlin Postkolonial e.V. sowie die Stiftung Stadtmuseum Berlin mit der Initiative für postkoloniales Erinnern in der Stadt ein Modellprojekt zur Dekolonisierung städtischer Erinnerungskultur. Das Projekt beinhaltet ein Recherche-, Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm zunächst in Berlin – dem administrativen und wirtschaftlichem Zentrum des deutschen Kolonialismus. „Unser Projekt hat Modellcharakter auch über Berlin hinaus“, sagt Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD). „Denn mit ihm erproben wir, wie sich Städte und ihre Museen mit ihrer Kolonialgeschichte und deren Nachwirkungen umfassend und kritisch auseinandersetzen können. Die Debatte um Dekolonisierung wird damit deutlich über das Feld der ethnologischen Museen hinaus erweitert, auf das sie derzeit konzentriert ist.“ Paul Spies, Direktor des Stadtmuseums Berlin führt weiter aus: „Wir erhoffen uns eine Signalwirkung auch für andere Städte und Kommunen in Deutschland und europaweit.“

:Stefan Moll

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