Debatte. Bei seiner Antrittsvorlesung sprach sich Joachim Gauck für eine vielfältige Pluralität aus – gegenüber Identitäten, aber auch Haltungen.
Vergangenen Mittwoch hielt der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck seine Antrittsvorlesung im Zuge der ihm verliehenen Max-Imdahl Gastprofessur. Gauck sprach sich dabei, wie auch in seinem Buch „Toleranz: einfach schwer“ für eine plurale Gesellschaft aus, die gleichermaßen selbst Pluralität auf verschiedene Weisen akzeptiert. Diesen Pluralismus versteht Gauck auf zwei Ebenen. „Unsere Gesellschaft wird heute immer pluraler, immer vielfältiger. Ich nenne nur die Bereiche von Religionen, Ethnien, Geschlechteridentitäten und Rollenverständnisse in Familie und Arbeitswelt“, sagte er. Dieser Pluralismus sei in den vergangenen Jahrzehnten rapide angestiegen und führte zu freiheitlicheren, liberaleren Gesellschaften. Gleichzeitig komme es derzeit in vielen Gesellschaften zu retardierenden Momenten. Gauck benennt explizit rechte Bewegungen in Polen, Ungarn, Österreich, den USA sowie die AfD in Deutschland. Als Ursache führte er Studien an, nach denen rund 33 Prozent der Bevölkerung in 28 untersuchten europäischen Staaten eine autoritäre Verfasstheit aufweisen. Dies seien „Menschen, die existieren, ohne, dass sie schon Feinde der Demokratie sind.“ Aber mit „einer Furcht vor dem Wandel, wo andere Glück und Ermöglichung sehen. Ihnen ist Sicherheit wesentlich wichtiger als Freiheit“, bezieht er sich auf die Autor*innen der Studien. Aus dieser Disposition lasse sich Gutes entwickeln, beispielsweise wenn nach einem wertkonservativen Konzept „gute Traditionen“ am Leben gehalten werden. Schlechte Impulse bildeten sich aus Wut und Zorn gegen den Wandel.
Doch bereits in Deutschland scheint Gaucks These in der Realität keinen Fuß zu fassen, wie sich Wähler*innenzustrom für die AfD zeigt. Denn wie die vergangenen Wahlen insbesondere in Ostdeutschland zeigen, erreichten die Botschaften der Partei viele Menschen, die zuvor Nichtwähler*innen waren. Dies ist ein Indiz, dass Menschen mit einer „autoritären Disposition“ nicht „Gutes entwickeln“ und ihre Stimme einer Partei geben, die zwar wertkonservativ und demokratisch ist, sondern sich für eine Partei entscheiden, die faschistische Züge trägt.
Stattdessen führt Gauck einen anderen Grund für die Ermächtigung reaktionärer Kräfte an. So zitiert er den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk: „Wenn die liberalen Demokratien es nicht schaffen, ihren Bürgern das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ist das Erstarken von Populisten, Nationalisten und Autokraten nahezu zwangsläufig.“
Wie ein „Gefühl“ der Sicherheit zu schaffen sei, spart Gauck dabei aus. Denn darin herrscht ein essenzieller Konflikt: Wenn Staaten versuchen, Bürger*innen ein Gefühl der Sicherheit zu geben, damit sie nicht reaktionäre Positionen einnehmen, geschieht das zumeist zum Nachteil derer, die Gauck als ein positives Zeichen einer pluralen, liberalen Gesellschaft darstellt. Denn Sicherheitspolitik, wie diese in Deutschland in den vergangenen Jahren durch Überwachungsgesetze, verstärkte Polizeibefugnisse und Nachrichtendienste betrieben wurde, scheint zum einen keine Bremse für autoritäre Haltungen zu sein, zum anderen werden insbesondere Minderheiten stärker von verstärkter Sicherheitspolitik ins Ziel genommen.
:Stefan Moll
Die Anmeldungen für die nächste Veranstaltung am 15. Januar sind ab nun offen. Ihr findet sie unter
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